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Es sind Nuancen, die darüber entscheiden, ob sich ein Pferd ehrlich loslassen kann (links losgelassen, rechts verspannt).
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«Ein Leben reicht nicht aus …»

03.04.2012 11:30
von  Anne Schmatelka //

Als Felix Bürkner noch lebte, hat er einmal gesagt: «Ein Leben reicht nicht aus, um reiten zu lernen!» Heute scheint man das vielerorts anders zu sehen! Wenn man die Medien verfolgt oder sich durch das Internet klickt, drängt sich einem der Gedanke auf, dass man Reiten mal so eben erlernen kann.

Vor allem, wenn man Überschriften liest wie: «… in sechs Monaten von E-Niveau zur ersten S-Dressur» oder «… in unseren Ferienlehrgängen machen wir Sie innerhalb von drei Wochen fertig für Ihren Turniererfolg.»

Was ist losgelassen und wo verspannt sich das Pferd? Woran erkennt man es? Beim Reiten und Ausbilden entscheiden oft Kleinigkeiten über Losgelassenheit oder Verspannung.

Kann das so wirklich funktionieren?

Nehmen wir uns einen durchschnittlichen nicht ganz unsportlichen Anfänger. Er sitzt das erste Mal auf einem Pferd an der Longe. Es ist zu allen Seiten steil und abschüssig. Im Schritt geht das noch irgendwie mit dem Geschaukel. Im Trab wird es schon grenzwertig und an Galopp will er um Himmelswillen noch gar nicht denken, wenn er da so auf dem Pferd herumhopst und den Takt überhaupt nicht finden kann. Nach zwei bis drei Wochen kann er sich dann schon mal obendrauf festhalten. Vor allen Dingen, am Zügel. Wie gut, dass es diesen Haltegriff gibt.

Erste Lektionen in der Halle


Dann kommen die ersten Versuche in der Reitbahn. In der Gruppe mag es noch funktionieren, da das liebe Schulpferd brav hinter den anderen hinterhertrottet. Man traut sich schon mal, durchzuatmen, ohne in Gedanken schon wieder den Boden aus der Horizontalen zu begutachten. Irgendwann hat man dann auch diese Phase hinter sich gebracht und Mensch beginnt mit den ersten Lektionen. Irgendwie, sehr international, aber nicht wirklich fundiert. Das Pferd ist es gewohnt und macht es mit. Man ist geneigt, zu glauben, man hätte das mit dem Reiten begriffen. Wenn dann der Reitlehrer noch sagt, wie gut man das doch alles macht, dann erkennt man endlich auch selbst sein eigenes Genie! In der Reitlehre steht dann etwas geschrieben von «unabhängig von der Hand in der Bewegung des Pferdes mitschwingen», «mit gefühlvollen halben Paraden». Davon ist man auch nach zwei Jahren Reiten und Unterricht im Allgemeinen noch Meilen entfernt – wenn man ehrlich ist. Je tiefer man in die Reiterei einsteigt, umso mehr wird oder sollte einem bewusst werden, dass man vom «Reiten können» noch ganz weit weg ist.

Hilfen erteilen, ist der Schlüssel


Wenn jemand aufgrund eines weiter ausgebildeten Pferdes dann irgendwann in der Lage ist, akzeptabel Hilfen zu erteilen und das Pferd dann noch einen so guten Charakter hat, dass es das alles mitmacht und die geforderten Lektionen auch noch abspult, hat man Reiten in seiner Vielfalt leider noch immer nicht durchdrungen. Lektionen nachzureiten und dem Pferd durch Drü­cken, Knuffen und Schieben zu vermitteln, was man denn nun von ihm möchte, lässt sich mit Reitkunst nicht in einem Satz nennen.
Etwas nachreiten zu können, heisst dann leider auch noch immer nicht, dass Pferd bis zu dem Niveau auch selbst ausbilden zu können, denn dazu braucht man unter anderem ganz viel Erfahrung auf ganz unterschiedlichen Pferden und eine lange und fundierte Ausbildung. Man könnte jetzt zur eigenen Entschuldigung vorbringen, dass man ja gar keine Turniere reiten möchte und es um den Spass an der Freu­de geht. Sollte diese Freu­de am Reiten nicht aber für beide Seiten gelten? Nämlich für Reiter und Pferd. Sollte das nicht gleichbedeutend sein mit der Erkenntnis, dass man jeden Tag an sich arbeiten muss, um dem Pferd den Transport des Reiters so angenehm wie möglich zu machen?

Reiterliche Anpassungsfähigkeit


Die Zucht hat in den letzten 30 Jahren sehr gute und sensible Pferde hervorgebracht, ausgestattet mit einem grossen Be­wegungspotenzial. Damit diese Pferde gesund bleiben können, braucht es Reiter, die in der Lage sind, ihre reiterlichen Fähigkeiten dem Pferd und seinem Potenzial anzupassen. Feine Hilfengebung und ein klar strukturiertes und ausgewogenes Training. Vom Gelände über Gymnastikspringen bis hin zu Dressur. Die dressurmässige Ausbildung sollte dabei die Grundlage für alles Folgende bilden, Sitzunterricht auch bei einem hö­heren eigenen Reitni-veau noch regelmässig auf dem Trainingsplan stehen. Auch mit der theoretischen Seite der Reitlehre, mit Zusammenhängen und Abhängigkeiten, den biomechanischen und mus­kelphysiologischen Hintergründen sollte sich ein Reiter befassen. Hat man das komplexe System Pferd verstanden, dann hat dieses System eine reelle Chance, auch nach vielen Jahren als Reitpferd noch gesund zu sein.

Ein Bild des Grauens


Wenn man heute ein ländliches Turnier besucht oder sich auf der internationalen Ebene einen Überblick verschafft, sieht man hauptsächlich verspannte, teilweise vollkommen falsch bemuskelte Pferde. Von Losgelassenheit, ehrlicher und korrekte Ausbildung sieht man wenig. Die daraus resultierenden Probleme für das Pferd kommen nicht vom Reiten an sich, sondern vom fehlerhaften Reiten. Von Sitz- und ­Einwirkungsfehlern, von einem wenig systematischen Trainingsaufbau, von überzogenen Anforderungen gegenüber dem Pferd und von der Selbstüberschätzung manch eines Reiters. Nehmen wir alleine einmal den Sitz. So viele Dinge spielen hinein, um ein Pferd zu unterstützen oder es durch den Sitz zu behindern, vielleicht sogar komplett zu blockieren. Das ist noch immer nur wenigen Reitern wirklich bewusst.

Wie beim Skifahren

Wenn wir den Sitz mit der Position beim Skifahren vergleichen, werden Nu­ancen und Feinheiten schnell deutlich. Sie entscheiden darüber, ob wir beim nächsten kleinen Buckel auf dem Hinterteil landen oder im etwas tieferen Schnee mit unserer Nase in demselben versinken. Kann man es sich
auf einer gut präparierten Piste noch leisten, schon einmal aus dem Gleichgewicht zu kommen, sich ein wenig zu weit nach vorne oder nach hinten zu lehnen, ist eine Gewichtsverlagerung mit einem Quänt­chen zu viel nach vorne gelehnt bei einer Tiefschneestrecke beispielsweise ausreichend, um innerhalb von Sekunden mit der Nase im Schnee zu liegen. Denn da muss man das Gewicht nach hinten verlagern, aber trotzdem nicht aus dem Gleichgewicht kommen. Verlagert man sein Gewicht demgegenüber auf einer Buckelpiste eine Idee zu weit nach hinten, landet man schneller auf dem Hinterteil, auf dem Rü­cken oder gar auf dem Kopf, als man schauen kann. Auf das Reiten übertragen heisst das, kommen wir im Sattel aus dem Gleichgewicht, kommt auch das Pferd aus der Ba-lance. Geben wir mit unserer Hand fehlerhafte hal­be Paraden oder gar kei­ne, behindern wir unser Pferd. Können wir Hilfen nicht korrekt erteilen, kann das Pferd die Lektion nicht korrekt ausführen, manches Mal gar überhaupt nicht.

Mehr als nur einfaches Handwerkszeug


Mit dem Sitz und dem Ausführen der Lektionen ist Reiten aber noch nicht zu Ende. Würde sich Reiten darauf reduzieren, könnte man davon ausgehen, dass es manch ein talentierter Reiter doch recht schnell erlernen kann. Neben dem grundlegenden Handwerkszeug Sitz und Einwirkung kommen immer noch die allgemein ­aufwendigen Bewegungen des Pferdes dazu. Dann die Zusammenhänge zwischen Muskelaufbau und systematischem Training, die Ausgewogenheit von dressurmässiger Ausbildung, Entspannung in Ge­lände und auf der Wie­se, das Abwägen, wann man wie und wie viel mit ersten versammelnden Lektionen beginnen kann. Wann und wie oft Entspannungsphasen einzubauen sind und wie man das alles am besten immer unter dem Auge eines guten Trainers aufbaut. Dann muss man beim Reiten selbst auch noch immer darauf achten, dass das Pferd von hinten nach vorne durch seinen Körper schwingt, das ­Hinterbein aktiv ist, das Pferd den Rücken hergeben kann, man keine rückwärts wirkenden Hand hat, man als Reiter zum Sitzen und zum Treiben kommt. Rippenlösende und rippenbiegende Arbeit nicht vernachlässigt werden und das Gymnastizieren immer oberste Priorität hat. Immer mit dem Ziel der ehrlichen Losgelassenheit.

Sensibel und individuell


Dann kommt noch die Sensibilität und Individualität des jeweiligen Pferdes hinzu, vielleicht die eigenen körperlichen Unzulänglichkeiten, die psychische Belastbarkeit seitens des Pferdes und des Reiters und und und … Und dann glaubt manch einer noch immer, man könne Reiten so eben mal rasch erlernen. Ist man einmal ganz tief in die Materie eingedrungen, stellt man jeden Tag wieder aufs Neue fest, dass man noch immer am Anfang steht, man täglich mit neuen Herausforderungen konfrontiert wird, da das Pferd noch nicht so fein auf die Hilfen reagiert, wie man es sich vorgestellt hat, es sich vielleicht nicht so ehrlich loslassen kann, wie man es selbst erhofft. Wenn man das alles in seiner Tiefe und Komplexität begreift, dann weiss man, dass ein einziges Leben nicht ausreicht, um Reiten zu lernen.

(Erschienen in der PferdeWoche Nr. 13/2012)

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