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Estelle Wettstein. Fotos: Stefan Lafrentz
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Estelle Wettstein: Tokio im Blick

18.12.2018 13:23
von  Florian Brauchli //

Die 22-jährige Wermatswilerin Estelle Wettstein hat den «Pferdevirus» in die Wiege gelegt bekommen. 2018 hat die siebenfache Nachwuchs-Schweizermeisterin und EM-Teamgoldmedaillengewinnerin einen rasanten Aufstieg hinter sich – und dieser soll auch 2019 weitergehen. Die Zürcherin erlebte 2018 mit den WEG in Tryon ein grosses Highlight, aber auch eine grosse Enttäuschung. Das Fernziel heisst Olympische Spiele 2020 in Tokio.

«PferdeWoche»: Estelle Wettstein, Ihr Aufstieg war rasant. Wie haben Sie das Jahr 2018 erlebt?
Estelle Wettstein: Das Jahr war für mich unglaublich, ich kann es kaum begreifen. Klar habe ich mir diesen Aufstieg erhofft, aber nicht in diesem Masse und mit diesem Erfolg. Es war auch ein extrem lehrreiches Jahr, mit vielen Höhen, aber auch Tiefen. Grundsätzlich war es sicher eine tolle Saison.

Das Highlight waren sicher die WEG in Tryon, was bleibt Ihnen davon speziell in Erinnerung?
Das war mein erstes Mal in Amerika. Diese riesigen Dimensionen bleiben mir am meisten.

Wie haben Sie die Enttäuschung im WM-GP mittlerweile verarbeitet?
Klar ist diese negative Erfahrung noch in mir, aber für mich ist das Vergangenheit. Ich will in die Zukunft schauen. Nach Genf werde ich mich vor allem dem Training widmen und das Gelernte festigen. Das wird eine wichtige Zeit. Ich will mich auf das konzentrieren, was noch kommt und nicht auf das, was war.

Estelle Wettstein macht nicht nur im Sattel eine gute Figur.

Wie gehen Sie mit dem grossen Druck um, dass Sie als «die» grosse Zukunftshoffnung in der Schweizer Dressur gesehen werden?
Ich finde es erstmal eine grosse Ehre, dass man mich so wahrnimmt. Es ist Druck da, das ist klar. Mein Umfeld schützt mich aber sehr davon. Ich bin mir diesem Anspruch viel weniger bewusst. Ich weiss zwar, wie man mich sieht, aber ich nehme es selber viel weniger wahr.

Neben Ihnen galt auch Léonie Guerra als grosses Schweizer Dressurtalent. Was sagen Sie dazu, dass sie nun der Schweiz den Rücken gekehrt hat und für das Fürstentum Liechtenstein an den Start geht?
Ich finde es zwar schade, aber ich kann nachvollziehen, dass sie als Doppelbürgerin für ihre Heimat Liechtenstein starten möchte.

Nun starteten Sie beim CDI Genf zum ersten Mal bei einem Fünfsternturnier. Wie war es, gegen die Besten der Welt anzutreten?
Es ist wieder eine neue Herausforderung. Das Turnier in Genf ist für mich eines der schönsten der Welt. Es ist nicht nur ein Fünfsternturnier – es ist Genf. Nochmals eine Stufe darüber. Isabell Werth oder Jessica von Bredow-Werndl schaue ich sehr gerne zu und versuche, viel von ihnen zu lernen.

Estelle Wettstein mit West Side Story: erstmals beim CDI5* Genf am Start.

Haben Sie sich schon einmal überlegt, bei einer Weltklassereiterin ein «Praktikum» oder «Stage» zu absolvieren?
Ich habe bereits schon mal mit Isabell Werth trainiert. Jessica von Bredow-Werndl kenne ich sehr gut, weil wir in Jonny Hilberath den gleichen Trainer haben. Dann redet man natürlich viel miteinander und tauscht sich aus. Das hilft mir auch sehr viel.

Wo sehen Sie Ihr grösstes Verbesserungspotenzial?
Sicher die Erfahrung, die Routine, die mir noch fehlt. Ich reite mit sehr viel Gefühl, das ist mir sehr wichtig. Die Technik kann und muss man immer noch verfeinern, damit man irgendwann das Programm einfach abspielen kann und nicht immer korrigieren muss, denn daraus entstehen dann die Fehler.

Auf wessen Unterstützung können Sie im Training zählen?
In letzter Zeit haben wir viel mit Kadertrainer Gareth Hughes trainiert. Ich werde sicher im Winter auch wieder mit Jonny Hilberath zusammenarbeiten. Zudem trainiere ich ja auch viel mit meinen Eltern Marie-Line und Ernst.

Wie wichtig ist Ihnen persönliche Fitness und was machen Sie als Ausgleich zum Pferdesport?
Fitness ist mir sehr wichtig. Ich gehe vier- bis fünfmal pro Woche ins Fitnessstudio. Sehr viel Zeit neben den Pferden bleibt ja nicht, aber ab und zu ein bisschen Abstand muss auch sein. Ich nehme mir diese Zeit. Ich habe mir sie lange nicht genommen, aber ich habe gemerkt, dass es wichtig ist. Fitness ist für mich ideal, um abzuschalten und mich nur auf mich zu konzentrieren. Um abzuschalten gehe ich mit meiner Schwester Aurélie weg oder treffe Freunde in Zürich oder Basel.

Was sind Ihre Ziele für das kommende Jahr?
Die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Tokio hat für mich oberste Priorität, egal ob mit dem Team oder im Einzel. Dazu braucht es sicher eine gute EM, die nächstes Jahr in Rotterdam stattfindet. Daneben will ich auch meine jungen Pferde, einen Sieben- und einen Achtjährigen, weiterentwickeln und mit ihnen starten. Im Springen versuche ich mich wieder für das Kader aufzudrängen.

Auf welche Pferde können Sie 2019 zählen?
Neben den beiden genannten jungen auf Friedrich der Grosse und West Side Story. «West Side» ist vielleicht ein Tick stärker. Sie hat einen enormen Kampfgeist und will immer ihr Bestes geben. Das kommt ihr dann aber auch manchmal in die Quere. Wenn ich ins Viereck komme, will sie sich unbedingt super präsentieren, stresst sich dadurch aber auch ein biss­chen selber. Das ist gleichzeitig eine Schwäche, aber nur darum ist sie schon so weit gekommen. Sie ist charakterlich ein herzensgutes Pferd. Ihre grösste Stärke in den Lektionen ist sicher der Trab.
«Freddy» ist ein qualitativ sehr gutes Pferd, aber durch seine Grösse braucht er ein gutes Management. Er ist top, um die Stute zu entlas­ten. Tryon zum Beispiel wäre sehr anspruchsvoll für ihn gewesen mit der langen und anstrengenden Reise. Er ist ein genialer Lehr-meis­ter. Er bringt einem nicht nur beim Reiten immer wieder Neues bei. Ich habe bei ihm gelernt, geduldig zu sein.

Inwieweit spielen die Olympischen Spiele, die 2020 in Tokio stattfinden, schon eine Rolle in Ihrer Planung?
Das nächste Jahr steht im Zeichen von Olympia – eine Teilnahme ist mein obers­tes Ziel. Darauf arbeite ich hin. Es wäre toll, mit dem Schweizer Team nach Japan reisen zu können. Falls dies nicht klappt, würde ich gerne als Einzelreiterin teilnehmen. Wenn es mir gelingt, tolle Leistungen zu bringen, hilft dies sowohl dem Team als auch meiner potenziellen Qualifikation.

(Erschienen in der PferdeWoche Nr. 50/2018)

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