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Marie-Line prä̈sentiert in einem Familienbuch eine Originalzeichnung von Salvador Dali.
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«Ich hatte stets nur Pferde im Kopf»

27.03.2018 10:44
von  Peter Wyrsch //

Der Fohlenhof in Wermatswil ZH ist seit über drei Jahrzehnten ihr Zuhause. Sie arbeitete sich mit Fleiss, Willen und Talent und mit Hilfe renommierter Ausbildner von den Junioren bis zur Elite hoch, gewann ein ganzes Medaillenset an Schweizer Meisterschaften, nahm an Europa- und Weltmeisterschaften, aber nie an Olympischen Spielen teil. Die Rede ist von der adretten Dressurreiterin Marie-Line Wettstein-Darier, die 2009 mit dem Rücktritt ihres Hannoveranerwallachs Le Primeur auch ihre Karriere beendete. Seither kümmert sich die gebürtige Genferin vermehrt um die Ausbildung von Dressur­pferden, um ihre talentierte Tochter Estelle und um die Administration und die Finanzen des eigenen Sport-und Handelsstalles in Wermatswil bei Uster, den sie zusammen mit ihrem Mann, dem ehemaligen Spring- und Rennreiter Ernst Wettstein, führt.

Marie-Line Wettstein sitzt in ihrem Büro auf einem über 100-jährigen belgischen Pferdeschlitten.

Als 19-Jährige zog Marie-Line von der West- in die Deutschschweiz um. Amors Pfeil, den Ernst Wettstein abgefeuert hatte, hatte die taffe Romande mitten ins Herz getroffen. «Ich brach die schulische Ausbildung vor der Matura ab. Ich verbrachte die Tage lieber mit Lesen in der Bibliothek oder mit Pferden. Ich hatte stets nur Pferde im Kopf», erzählt die 56-jährige Mutter der beiden kecken Töchter Aurélie (25) und Estelle (21), die den Pferdevirus ihrer Eltern und den Charme, die Ausstrahlung und die Kontaktfreudigkeit ihrer Mama übernommen haben.

Nur Pferde im Kopf

«Ich wusste bereits mit neun Jahren, was ich einst machen möchte: Pferde reiten!» Im Mädchenzimmer von Marie-Line Darier hing über dem Bett ein grosses Bild von Christine Stückelberger und ihrem Granat. So wie die Olympiasiegerin, Europa- und Weltmeisterin wünschte sie, reiten zu können. Ganz auf den Olymp hat es Marie-Line trotz der Zustimmung ihrer Mutter nicht geschafft, obwohl ihre Begeis­terung auf Unterstützung fiel und erfolgreiche Lehrmeister sie gefördert hatten. So bekannte Namen der Dressurszene wie der einstige Olympiasieger Henri Chammartin (Goldmedaillengewinner in Tokio 1964), Harry Boldt, Udo Lange, Jürgen Koschel und Arthur Kottas (jahrelanger Oberbereiter der Spanischen Hofreitschule in Wien) oder Ehemann Ernst inspirierten und schulten sie.

Die Wettstein-Amazonen (v. l.: Estelle, Marie-Line, Aurélie) mit Familienhund Idefix sind High-Heels-Freaks.

Juristen und Bankiers


Marie-Line ist die Tochter des verstorbenen Genfer Brokers Bernard und der Belgierin Micheline, geborene Devèze. Deren Familienvorfahren waren in Belgien angesehene Rechtsanwälte und massgebende Politiker. Marie-Lines Bruder Maurice, der zehneinhalb Jahre älter ist als seine einzige Schwes­ter, war Diplomat, in London, Helsinki, Saudi-Arabien und im Jemen, um nur einige Stationen zu erwähnen. Cousin Bertrand Da­rier war Teilhaber einer Genfer Privatbank. Er ist heute noch aktiver Concoursreiter. Die Devèzes und Dariers waren allesamt gebildet, Intellektuelle, Politiker und Banker. «Nur ich bin das schwarze Schaf, das Schlitzohr eben», bemerkt Marie-Line dazu. Sie ist aber stolz auf ihre Familie. So präsentierte sie beim Besuch der «PferdeWoche» im geschmackvoll umgebauten Elternbauernhaus der Wettsteins ein schweres Buch ihrer Grossmutter Anne-Marie Robiart mit einer eigenhändigen Widmung und Zeichnung des 1989 verstorbenen, weltberühmten spanischen Malers Salvador Dali.

Extravagante High Heels

Kein Zweifel: Marie-Line und ihre Familie haben Klasse, Stil und Geschmack. Die Hausherrin legt Wert auf Ordnung und hat ein besonderes Flair für Dekorationen und kombiniert Traditionelles, Raritäten und Antiquitäten mit neuzeitlichen Accessoires. Auffallend die zahlreichen modernen Handtaschen und die extravaganten High Heels, die selbst im Salon zu bestaunen sind. «Wir stehen auf Stöckelschuhe, weil wir allesamt klein sind und wir tragen gerne zu modernen Klamotten elegante Taschen», erzählt Aurélie, die nach der Zweitwegmatura nun den Bachelor an der internationalen Managementschule in Winterthur anstrebt und sich 2016/2017 während zehn Monaten in Moskau weiterbildete und Russisch spricht. Die mit dem Zuger Eishockeystürmer Sven Senteler liierte ältere Tochter von Marie-Line hat sich nach zahlreichen Auszeichnungen und Medaillen bei den Junioren und Jungen Reitern und der Elitekaderzuteilung 2015 vom Spitzensport zurückgezogen und will künftig als Kauffrau in Dienstleistungsbetrieben Zeichen setzen.

Mama Marie-Line mit ihrer jüngeren Tochter Estelle und ihrer neuen Dressurerrungenschaft, dem achtjährigen Oldenburger Quaterboy.

Doppelspurige Estelle

Estelle, die mit 21 Jahren jüngere der Wettstein-»Sis­ters», reitet weiter – erfolgreich und doppelspurig. Sie hat Mitte Januar die Zweitwegmatura zur Freude ihrer Eltern mit der hohen Gesamtnote von 5,6 abgeschlossen und trainiert nun jeden Morgen mit ihrer Maman. Das «N» am Schluss des Wortes ist kein Rechtschreibfehler. Gespro­chen wird im Hause Wettstein untereinander fast ausschliesslich Französisch – kein Wunder, wenn Maman eine Welsche ist. Estelle ist äusserst talentiert, ein Versprechen für die Zukunft – auch in der Elite. Sie gehört sowohl in der Dressur als auch im Springen dem Kader der Jungen Reiter an. Sie war im Sandviereck schon Schweizermeisterin der Junioren, der Jungen Reiter in der U25-Kategorie. Und bestätigte ihr Können auch im Springreitsattel mit der Teamgoldmedaille bei den Junioren 2013 oder dem vierten Platz an der Junioren-EM 2014 im Einzel. «Ich reite weiterhin in beiden Disziplinen. Das macht Spass und bringt Abwechslung», sagt Estel­le, die seit September letzten Jahres in Bern eine Ausbildung als Spezialis­tin für klassische Reitkunst besucht. Sie wird voraussichtlich einmal den Fohlenhof ihrer Eltern übernehmen. «Wir haben mehrere Dressur- und Springpferde für Estelle im Training», erzählt Marie-Line. Friedrich der Grosse, West Side Story, Donna Domani und seit zwei Wochen den achtjährigen Oldenburger Quaterboy für die Dressur, Time for Fun, Great Escape Camelotte und Clabautermann für die Springen. «Ohne langjährige, treue Sponsoren, die uns seit über 30 Jahren vertrauen, wären wir nie derart beritten», ergänzt die Fohlenhof-Herrin.

Marie-Line Wettstein mit Piroschka am CDI Achleiten.

Das Pferd des Lebens

Zwei Pferde prägten das Leben der Dressurreiterin Marie-Line Wettstein: Watusi und Le Primeur. «Watusi kam zweieinhalbjährig zu mir. In Verden haben wir ihn an der Hengstkörung für damals 18000 Deutsche Mark erstanden. Mit ihm ritt ich meine ersten Grands Prix.» Als «Pferd des Lebens» bezeichnet sie Le Primeur, den sie als Siebenjährigen erhielt. Mit ihm stieg sie in die Eliteklasse auf. Mit dem 176 Zentimeter grossen sensiblen Hannoveranerwallach erreichte sie die Blüte ihrer hohen Kunst. Als Höhepunkte bezeichnet sie die Teilnahme am Weltcupfinal 2005 in Las Vegas, an der WM 2006 in Aachen sowie an den EM in Hagen und La Mandria, wo die Schweizer Equipe sogar Teamvierte wurde. «‘Leo’ war ein sensibler Vollblüter und äusserst korrekt, in seiner Art aussergewöhnlich. Vor allem die Galopparbeit und die Passagen waren hervorragend.»

2008 gewann Marie-Line Wettstein SM-Gold auf Le Primeur vor Marcela Krinke Susmelj (unten, links) und Silvia Iklé (rechts).

Das Aussergewöhnliche an der Dressur-Powerfrau ist aber, dass sie über das Sandviereck hinausblickt. Sie sorgt für die Wohlfühlatmosphäre in der Familie, hat ein modisches und ästhetisches Flair und ist zart besaitet. Die Frage nach dem Sein und der Entwicklung der Lebewesen beschäftigt sie sehr. Sie steckt in steter Weiterbildung und Selbstfindung und schmökert deshalb in ihrer kärglichen Freizeit gerne in Zeitschriften und Büchern.

(Erschienen in der PferdeWoche Nr. 12/2018)

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