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Rodrigo Pessoa während den Olympischen Spielen in Tokio.
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«Ich hoffe, dass die FEI dieses Mal zuhört»

24.08.2021 16:20
von  Rodrigo Pessoa //

Nach den Olympischen Spielen in Tokio gab es viele Reaktionen bezüglich dem neuen Reglement im Springen. Es gibt nur wenige, die die von der FEI vorgenommenen Änderungen zu schätzen wissen: mehr Flaggen (34 im Vergleich zu 27 in Rio und London), nur noch Dreierteams, kein Streichresultat und die Einzel- vor der Teamentscheidung. Unsere Kolleginnen von «www.worldofshowjumping.com» haben diesbezüglich den Brasilianer Rodrigo Pessoa um eine Stellungnahme gebeten. Pessoa ist siebenfacher Olympiatailnehmer, wurde 2004 selbst Olympiasieger und gewann zweimal Teambronze.

Von Rodrigo Pessoa

Ich war zu der Zeit, als die Entscheidung bezüglich neuem Olympiamodus getroffen wur­de, Athletenvertreter im FEI-Springausschuss. Und ich muss zugeben, dass ich und Rob Ehrens (Anm. d. Red.: niederländischer Equipenchef und Mitglied des FEI-Springausschusses von 2015 bis 2019) uns dort ein wenig isoliert fühlten. Wir haben diese Entscheidung sehr, sehr hart bekämpft, mit allem, was wir hatten, aber die FEI und das Internationale Olympische Komitee wollten eine andere Richtung einschlagen und wir konnten nichts dagegen unternehmen.

Das olympische Format wurde über einen Zeitraum von vier Jahren im Springreiterausschuss diskutiert. Steve Guerdat hat im Namen der Reiter am FEI-Sportforum in Lausanne dafür gekämpft und erklärt, was passieren könnte. Wir hatten intensive Diskussionen bei den Generalversammlungen des IJRC, des «International Jumping Riders Club» – sowohl 2016 als auch 2019 – in Anwesenheit der FEI. 2019 waren sowohl FEI-Präsident Ingmar De Vos als auch der Springreitvorsitzende Stephan Ellenbruch selbst anwesend. Steve Guerdat, Eric Lamaze, Cian O’Connor, Kevin Staut, Max Kühner, Ludger Beerbaum und ich gehörten zu den Reitern, die die FEI vor den möglichen katastrophalen Folgen dieses neuen Formates gewarnt haben. Dennoch hielt die FEI daran fest. Wir Reiter wussten, dass das, was in Tokio passiert ist, passieren würde, denn wir leben diesen Sport fast unser ganzes Leben lang von morgens bis abends. Niemand brauchte eine Kristallkugel, um zu erkennen, dass dieser Modus eine Katastrophe werden würde. Jeder, der auch nur ein bisschen Ahnung von diesem Sport hat, hätte sehen können, dass das nicht gut gehen kann. 

*** Niemand brauchte eine Kristallkugel, um zu erkennen, dass dieser Modus eine ­Katastrophe werden würde. ***

Trotz all der Katastrophen in Tokio hatten wir grosses Glück, und das ist auf zwei Faktoren zurückzuführen: Erstens auf den Parcoursbauer Santiago Varela, der eine unglaubliche Arbeit geleistet hat und zweitens auf die Pferde und deren Reiter. Sie haben ihren Job gemacht – sie zeigten ihre Topleistungen. Trotz des schlechten Formats war der Sport unglaublich, aber nur wegen des Parcoursbauers sowie der Pferde, Reiter und ihrer Entourage – und nicht wegen des Formats. Für die Reiter ist es beruhigend zu wissen, dass wir Recht hatten. Wir haben der FEI das Gegenteil bewiesen. Jetzt müssen wir die Ärmel hochkrempeln und das Format so ändern, wie wir es wollen. Und die FEI sollte dieses Mal besser zuhören!

*** An erster Stelle steht natürlich das Wohl des Pferdes. ***

In der heutigen Zeit gibt es drei wichtige Parameter, die bei allen Springreitchampionaten berücksichtigt werden müssen: An erster Stelle steht natürlich das Wohl des Pferdes; zweitens wollen wir weniger springen, um – drittens – durch Spitzensport einen grossen Sieger zu bekommen. Das wird die Grundlage der Formel sein, die wir jetzt finden müssen. Wir müssen einen Weg finden, die Anzahl der Sprünge zu reduzieren, genau wie bei den Weltreiterspielen, wo der Pferdewechselfinal für die Top vier gestrichen wurde. Das war einfach zu viel für die Pferde und nicht in ihrem Interesse. Wenn man sich jedoch die Vierbeiner ansieht, die bei den Weltreiterspielen in Tryon unter den ersten zehn waren, dann sind aktuell nur noch zwei oder drei von ihnen auf höchstem ­Niveau. Die anderen haben mit Verletzungen zu kämpfen oder sind nicht mehr im Sport. Wir müssen uns also die Frage stellen: Wie können wir die Pferde weniger springen lassen und trotzdem tollen und guten Sport ausüben? Hier müssen wir die Köpfe zusammenstecken und uns ein System ausdenken, das fair ist und das im Sinne der Olympischen Spiele alle einbezieht, aber dennoch genügend klassiert, damit es verdiente Sieger gibt. Ich bin mir sicher, dass wir die richtige Formel finden werden, denn als Reiter wissen wir, wovon wir sprechen.

Wir hatten auch in Tokio grossartige Sieger, aber das System war ungerecht. Dass die Einzelwertung zuerst ausgetragen wird, macht keinen Sinn. Wenn man die amerikanischen und schwedischen Pferde vergleicht, die im Mannschaftsfinal um Gold und Silber kämpften, sind die schwedischen Pferde einen Umgang und ein Stechen mehr gesprungen als die amerikanischen. Das war ein enormer Nachteil und völlig falsch. Am Ende schlugen die Schweden ein kaputtes System – zum Glück! Was wir in Tokio von den Schweden gesehen haben, werden wir in unserem Leben nie wieder erleben. In weniger als einer Woche sprangen die drei schwedischen Pferde jeweils 86, insgesamt 258 Sprünge, und machten nur zwei Fehler. Was wir gesehen haben, war eine Demonstration grossartiger Reitkunst und perfekter Technik. 

*** Wir hatten auch in ­Tokio grossartige ­Gewinner, aber das ­System war unfair. ***

Es darf auch nicht sein, dass Reiter-Pferd-Kombinationen an das andere Ende der Welt reisen, um an den Spielen teilzunehmen, aber nach einer Runde wieder nach Hause fahren müssen, nur weil sie einen unglücklichen Fehler gemacht haben und ausgeschieden sind. Wir müssen zum alten System zurückkehren und mit der Teamentscheidung beginnen, in die auch die Einzelentscheidung integriert ist. So entscheiden wir von Umgang zu Umgang und nur die besten Paare kommen weiter.

*** Es besteht kein Zweifel: Das Streichresultat muss zurückkommen. ***

Nach dem alten Format haben die Teams Fehler in den Final mitgenommen. Ein solches System belohnt Beständigkeit. Davon einmal abgesehen könnte ich damit leben, im Final wieder bei null zu beginnen. Dies allerdings unter der Bedingung, dass wir zuerst mit den Teams starten und das Streichresultat wieder einführen.

Sehen Sie sich Frankreich an. Sie sind im Final zwei Runden mit einem Zeitfehler pro Reiter gesprungen und lagen in Führung, bevor ihr letztes Paar ausgeschieden ist – weil es kein Streichresultat gab. Sie waren Titelverteidiger, haben fünf Jahre auf Tokio hingearbeitet, Millionen von Euro investiert, und dann hat ein Pferd ein Missgeschick – was jedem passieren kann – und die Mannschaft ist ausgeschieden. 

Also besteht für mich kein Zweifel: Das Streichresultat muss zurückkommen. Wir machen diesen Sport mit einem Tier. Man kann ihn nicht mit der 400-Meter-Staffel in der Leichtathletik vergleichen, wo man ausscheidet, wenn man den Staffelstab fallen lässt. Das sind Menschen, wir aber haben es mit Pferden zu tun. Sie können sagen: «Hallo, wenn du den Staffelstab fallen lässt, sind wir raus – also sei vorsichtig.» Das Pferd weiss aber nicht, dass es die Olympischen Spiele sind, dass es keinen Fehler machen darf. Man kann nicht die Hoffnungen, Anstrengungen und Investitionen einer ganzen Nation in die Waagschale werfen wie in Tokio – was Daniel Deusser und Pénélope Leprevost passiert ist, könnte jedem passieren, denn es sind zwei der besten Reiter der Welt. 

*** Die FEI hat stets argumentiert, dass das Reglement mit Streichresultat für ein nicht reitendes Publikum verwirrend und schwer zu verstehen ist. Ist das wirklich so, wenn es richtig erklärt wird? ***

Was mir an dem neuen Format in Tokio gefallen hat, war die Möglichkeit, einen Reiter in das Team einzuwechseln. Ich denke, wir müssen uns die Möglichkeiten ansehen, um diese Option beizubehalten. Nur zur Veranschaulichung: Was Harrie Smolders im niederländischen Team geleistet hat, als er am letzten Tag des Mannschaftswettbewerbs, nachdem er die ganze Woche an der Seitenlinie gestanden hatte, eine fehlerfreie Runde hinlegte – das war unglaublich. Es braucht einen sehr mutigen Reiter, um das zu tun, und auch einen mutigen Equipenchef, um diese Entscheidung zu treffen. Das ist Drama, aber Drama im positiven Sinn! 

Die FEI hat argumentiert, dass das Reglement mit Streichresultat für ein nichtreitendes Publikum verwirrend und schwer zu verstehen ist. Ist das wirklich so, wenn es richtig erklärt wird? Sehen Sie: «Es gibt vier Teammitglieder, man streicht das schlechteste Ergebnis» – wie kompliziert ist es, dies zu verstehen? Beim Turmspringen oder Turnen gibt es acht Resultate, zwei werden gestrichen und am Ende zählen sechs – das sind auch Streichresultate. Es ist dasselbe und das Publikum versteht es. Die Behauptung, das Streichresultat sei verwirrend, war eine faule Ausrede der FEI, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen.

Das Mantra der FEI in diesem Prozess war, dass das IOC Druck ausübte: «Der Pferdesport muss sich ändern, oder er wird geändert.» Wir waren als olympische Sportart in Gefahr, wenn wir uns nicht anpassten. Aber was wir in Tokio gesehen haben, ist die wahre Gefahr für den Sport. Ein Reiter sollte nie in die Situation kommen, dass er die Runde zwingend beenden muss, weil sein Land sonst ausscheidet. In genau so einer Situation ist das Streichresultat elementar. 

Ich bin offen für mehr Flaggen bei den Olympischen Spielen, aber die teilnehmenden Pferd-Reiter-Kombinationen müssen sich ihren Platz verdient haben. Es gibt Grundprinzipien in unserem Sport, von denen wir nicht abweichen dürfen. Das sind die Olympischen Spiele; man sollte nicht dorthin gehen können, weil man aus einem bezüglich Pferdesport unterentwickeltem Land kommt und es einfach ist, sich zu qualifizieren – das darf nicht sein.

Die Teilnahmekriterien wurden bei zahlreichen Gelegenheiten diskutiert. Die FEI hat selbst gesagt, dass dies eine viel strengere Angelegenheit werde und dass es eine «ehrliche und faire Prüfung» geben würde. Auch in diesem Jahr gab es im deutschen Hagen wieder einen besonderen Wettbewerb, bei dem Pferde und Reiter ihre Startberechtigung erwerben konnten. Reiter aus China, Dänemark, Grossbritannien, Japan, Jordanien, Lettland, Marokko und Sri Lanka gehörten zu denjenigen, die potenzielle olympische Pferd-Reiter-Kombinationen schickten, um ihre Teilnahmeberechtigung zu erhalten. Zwei der Reiter, die es bei dieser Veranstaltung schafften, überstanden den ersten Tag der Olympischen Spiele nicht. Einer schied aus und einer gab auf.

*** Wir müssen uns darum bemühen, alle einzubeziehen, aber wir sollten das System nicht so gestalten, dass es möglichst viele Flaggen gibt. ***

Diese Art von Qualifikationsturnieren ist der falsche Weg. Die Teilnahmeberechtigung sollte nur an Pferd-Reiter-Kombinationen vergeben werden, die in einem echten internationalen CSI- oder CSIO-Wettbewerb ein relevantes Ergebnis erzielen können, mit der entsprechenden Atmosphäre und der Anspannung, die damit verbunden ist. Einmal zwölf Fehler in einem Fünfstern-GP zu haben, oder bei einem speziellen «Selektionsturnier» zu springen – das kann jeder. Es muss viel anspruchsvoller sein und damit ist das Problem der «Fahnen» gelöst. Für die Teilnahmeberechtigung muss man in der Lage sein, in einem Fünfstern-GP oder einem Nationenpreis mindestens eine fehlerfreie Runde zu springen, vielleicht sogar zwei. 

*** Die Teilnahmeberech­tigung sollte nur an Pferd-Reiter-Kombinationen vergeben werden, die auch in einem echten inter­nationalen CSI- oder CSIO-Wettbewerb ein relevantes ­Ergebnis erzielen können. ***

Apropos Flaggen und Universalität. In London 2012 zog Saudiarabien in den Final ein, in Rio 2016 war es Katar – dieses Mal war es Argentinien. Ansonsten sind die Teilnehmer da, weil sie die Besten der Welt sind. Für die anderen Nationen ausserhalb dieser Ländergruppe ist es unwahrscheinlich, dass sie in den Final einziehen – dafür brauchen sie erst einmal mehr Erfahrung und Praxis bei hochrangigen Nationenpreisen. Wer keinen Nationenpreis in St. Gallen, La Baule oder Rom gewinnen kann, wird auch nicht die olympische Teamentscheidung gewinnen.

Wir müssen uns bemühen, alle einzubeziehen, aber wir sollten das System nicht so gestalten, dass es möglichst viele Flaggen gibt. Wenn wir weiterhin darauf drängen, immer mehr Reiter aus Nationen einzubeziehen, die nicht bereit sind, auf diesem Niveau zu konkurrieren, wird das damit enden, dass jemand schwer verletzt wird. Dann sind wir auch wieder bei der Bedeutung eines extrem guten Parcoursbauers – wie es in Tokio Santiago Varela war – denn er oder sie wird das Ergebnis «diktieren». Das ist eine grosse Verantwortung und für solche Gelegenheiten kann man nur den besten Parcoursdesigner nehmen, den es gibt. 

Ich kann die Springwettbewer­be in Tokio nur damit vergleich­en, dass man einem wirklich guten Koch schlechte Zutaten gibt und er oder sie es trotzdem schafft, ein ausgezeichnetes Essen zu servieren. Santiago Varela hat in Tokio hervorragende Arbeit geleistet – er verdient eine doppelte Goldmedaille. Auch die Pferde, die Reiter und ihre Entourage haben ihren Job gemacht – einfach weil sie grossartig sind in dem, was sie tun.

Der Vorstand des Internationalen Springreiterclubs IJRC ist bereits daran, sich zusammenzusetzen. Wir sind uns alle einig, einen Vorschlag machen zu müssen, der in Kürze an die FEI geschickt werden wird. Denn wenn wir mit diesem «Spiel» weitermachen, werden wir sehr bald nicht mehr bei den Olympischen Spielen dabei sein!

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Mit freundlicher Genehmigung von Co-Autorin Jannicke Naustdal von «worldofshowjumping.com» – aus dem Englischen übersetzt und bearbeitet von Sascha P. Dubach.

(Erschienen in der PferdeWoche Nr. 34/2021)

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