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Zeigt das Pferd im Trab auf der Weide seinen Grundschwung?
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Neue Begriffe – eine Unsitte von heute

27.01.2015 13:54
von  Anne Schmatelka //

General a. D. Horst Niemack hat zu Lebzeiten einmal etwas ganz Zutreffendes über die Ausbildung des Pferdes gesagt: «Es gibt nichts Neues zu erfinden, nur Bewährtes zu bewahren.» Biomechanische Abläufe sind seit langer Zeit bekannt und haben sich nicht verändert, auch der Muskelaufbau eines Pferdes. Er lässt sich nicht beschleunigen. Muskeln wachsen seit Jahrhunderten nur in Millimeter-Schritten. Das wird sich nicht ändern. Die Pferde lernen in der gleichen Geschwindigkeit wie früher. Sie sind nicht belastbarer als früher. Sie brauchen den gleichen vorsichtigen und bedachten Umgang wie früher.

Nur die Zucht hat von Charakter und Gebäude vieles bewegt. Die Pferde sind gut­mütig, leistungsbereit, ha­ben ein für das Reiten bes­tens geeignetes Ge­bäu­de, sind sehr rittig, haben traumhafte Bewegungen und ein gewaltiges Sprungvermögen. Diese Veränderungen scheinen die Reiterwelt offensichtlich dazu zu verleiten, auch neue Begriffe zu entwickeln. Diese Begriffe jedoch schaffen in vielen Fällen nur Verwirrung.

«Kopf-Hals-Winkel möglichst gross sein»

Der Kopf-Hals-Winkel. Da geht das Leid schon los. Wo ist der denn, um Himmels willen? Misst man vom Ba­cken­kno­chen bis zum Hals? Oder ist damit die Ganasche gemeint? Wie kann man ausmessen, dass er ziemlich gross ist? Soll er 90 Grad haben oder weniger? Braucht man jetzt ein Geodreieck, um einschätzen zu können, wann er richtig ist? Dann wiederum sagt ein bekannter deutscher Offizieller: «Ein bisschen hinter der Senkrechten macht nichts.» Muss dann der Kopf-Hals-Winkel doch nicht so gross sein? Wie klein ist er denn? Warum bleibt man nicht bei der richtigen Formulierung: «Die Nase gehört an die Senkrechte.» Damit ist doch alles gesagt.

Misst man da wohl den Kopf-Hals-Winkel?

 

«Anlehnung muss weich und fein sein»

Was ist denn mit einer feinen oder weichen Anlehnung gemeint? Ist fein – oder in den neuen Richtlinien «Reiten und Fahren» auch als weich bezeichnet – die Übersetzung für konstante Anlehnung oder eine federnde? Oder heisst es einfach, dass man als Reiter vorsichtig sein soll, dass man keine grobe und rück­wärts­wirken­de Hand hat? Wenn dem so ist, kann man das einfach auf den Punkt bringen, Punkt.

Ist das jetzt eine weiche/feine Verbindung oder hängt der Zügel einfach durch, da die Anlehnung nicht korrekt ist?

 

«Richtige und falsche Kopf-Hals-Haltung»

Was immer das ist? Meint man damit eine korrekte relative Aufrichtung, bei der das Genick der höchste Punkt ist? Oder ist damit die fehlerhafte absolute Aufrichtung gemeint, bei der die Aufrichtung von Hand herbeigeführt wurde, der Rü­cken nicht hergegeben und der Schwung aus der Hinterhand nicht mehr sichergestellt ist? Oder ist das eine weitere Beschreibung dafür, dass die Nase hinter der Senkrechten ist oder dahin kommen darf?

Ist das jetzt die richtige «Kopf-Hals-Haltung» oder würden wir das eher – so wie es richtig ausgedrückt ist – als absolute Aufrichtung, also eine von Hand herbeigeführte Aufrichtung – bezeichnen?

 

«Der Naturgalopp»

Ist das der Arbeitsgalopp? Fällt das Pferd beim Galoppieren mit hoch gezogenem Kopf völlig auseinander? Oder meint man damit einen Galopp, den die Pferde auf der Weide zeigen? Wenn sich Naturgalopp dadurch auszeichnen sollte, dass Pferde irgendwie auseinandergefallen in der Reitbahn galoppieren, dann haben wir es künftig mit allem sehr viel einfacher. Wir schleudern mit unseren Pferden irgendwie über den Reitplatz und wenn sie nicht allzu offensichtlich humpeln, da sie vollkommen verspannt sind, ist alles gut?

«Der Grundschwung»

Was damit gemeint ist, ist nicht ersichtlich. Vermutlich geht es um den Bewegungsablauf im Arbeitstrab. Es könnte aber genauso gut sein, dass man seinem Pferd beim Traben auf der Weide zuschaut. Der sich dabei ergebende mehr oder weniger stark ausgeprägte schwungvolle Bewegungsablauf, der auch beim freilaufenden Pferd nur aus dem unverspannten Rücken seine Entfaltung findet, ist der Grundschwung? Ein Bewe­gungs­ablauf, der zwar nicht ergiebig (also nicht herausgeritten) ist, jedoch aus dem innerlich und äusserlich losgelassenen Pferd kommt?

«Taktstörungen»

Wenn man das Wort Störung nimmt, könnte man jetzt sagen: Eine Störung ist etwas, was von aussen kommt und somit etwas behindert, auf das man keinen oder nur wenig Einfluss hat. Dann ist der Reiter ab heute glücklicherweise nicht mehr daran schuld, wenn das Pferd so verspannt ist, das der reine Takt nicht mehr gegeben ist. Das wird nämlich im Allgemeinen durch fehlerhafte reiterliche Einwirkung hervorgerufen, die zu Verspannungen führt. Früher nannte man es «Taktfehler» oder im weiter fortgeschrittenen Stadium «Gangfehler». Es waren somit keine Störungen durch widrige Umstände, sondern schlicht und ergreifend reiterliche Fehler. Das ist heute auch noch so, aber die Störung hört sich besser an – oder? Übersetzt man es korrekt, würde man Taktstö­rungen ausschliesslich auf Fehler in Lektionen beziehen, wenn das Pferd beispielsweise in Piaffe oder Passage nicht alle Beine in der gleichen Höhe hebt, ein Bein mehr hochzieht als das andere oder wenn das Pferd in der Pirouette bei einem oder höchstens zwei Sprüngen in den Viertakt verfällt. Das heisst, Taktstörungen reduzieren sich ausschliesslich auf einen nicht sicher geregelten Bewegungsablauf innerhalb einer Lektion. Taktfehler beziehen sich immer auf die Grundgangart. Somit ist ein sich im Schritt passartig bewegendes Pferd nicht von Taktstörungen verfolgt, sondern es zeigt schlicht Takt- oder gar Gangfehler. Diese sind klare Reiterfehler, denn das Pferd ist nicht losgelassen.

«Balancestörung»

Balancestörungen kann man vermutlich mit: «Das Pferd ist nicht im Gleichgewicht» übersetzen? Es könn­te aber auch etwas anderes heissen. Wäre das nicht sehr einfach und vor allem für jedermann eingängig – wie es über Jahrhunderte war.

Durch die demonstrierte extrem breite Zügelführung und die rückwärts wirken­de innere Hand kommt das Pferd aus dem Gleichgewicht. Das mit «Balance­stö­rung» zu übersetzen, bietet sehr viel Spielraum für falsche Interpretationen.

 

«Innen annehmen und nachgeben»

Handelt es sich hierbei um die so wichtigen halben Paraden? Nun, dann ist das auf jeden Fall falsch, denn diese werden am äusseren Zügelgegeben und dienen der Genickkontrolle, der Hinterhandkontrolle, dem Tempowechsel und dem Richtungswechsel und zum Vorbereiten aller neuen Lektionen. Darüber hinaus braucht man sie für alle versammelnden Lektionen, um das Hinterbein zu einem noch aktiveren Abfussen zu veranlassen. Wenn man innen annehmen und nachgeben muss, blockiert man damit das innere Hinterbein und die innere Schulter am Vortritt. Man muss natürlich überlegen, warum es sinnvoll ist, sein Pferd ständig zu behindern? Wenn man entscheidet, dass das nicht sinnvoll ist, kann man das «Annehmen und Nachgeben» innen auch einfach unterlassen.

Kann man jetzt eine fehlerhafte verdrehte innere Hand – wie hier demonstriert – mit «innen annehmen und nachgeben» beschreiben? Dann machen wir ja künftig nichts mehr falsch.

 

«Aufwärtsparade»

«Aufwärtsparaden werden dann gegeben, wenn das Pferd mit der Nase hinter die Senkrechte kommt und sich einrollt», so die Aussage eines namhaften Ausbilders. Damit löst man zwar das Problem nicht, aber man hat endlich mal wieder was mit der Hand gemacht. Die ist ja sonst ziemlich nutzlos, wenn man ihr nur die Aufgabe überträgt, die Egon von Neindorff in seinem Buch «Die reine Lehre der klassischen Reitkunst» ihr zuschrieb: «Die Hand fängt nur auf, sie hält niemals zu­rück.»
Wenn sich Pferde einrollen oder auch verkriechen, dann liegt es daran, dass die Hinterhand nicht ausreichend aktiv ist, der Rücken nicht zum Schwingen kommt und die Pferde das Gebiss nicht annehmen. Das liegt an einer fehlerhaften Einwirkung und meist auch an einem fehlerhaften Sitz. Ein solches Problem hat man mit der Hand in hunderten von Jahren nicht lösen können. Man wird es auch zu­künftig nicht schaffen. Mit einer sogenannten Auf­wärts­parade erreicht man nur, dass das Pferd Angst vor der Hand bekommt und bei dem mehr oder weniger heftigen Zügelanzug unsicher und vermutlich auch erschrocken den Kopf nach oben zieht, um sich dann wieder nach unten vor der Brust zu verkriechen. Wenn sich ein Pferd einrollt, muss man es fleissig vorwärts reiten, damit das Hinterbein wieder durchtritt und das Pferd lernt, das Gebiss mit einer entsprechenden Dehnung des Hals wieder zu suchen. Die «Aufwärtsparade» ist somit ein kompletter reiterlicher Unsinn und man sollte sie so schnell vergessen, wie man davon gehört hat.

Eine sogenannte Aufwärtsparade führt nur dazu, dass sich das Pferd immer mehr verkriecht, der Vortritt nicht mehr sicher geregelt ist.

 

«Dysfunktionale Spannungen»

Diese wissenschaftliche Aus­führung steht in dem Kriterienkatalog «Beobachtungen von Reiter und Pferd» für das Vorgehen von Richtern auf dem Abreiteplatz, dass die «Deutsche Reiterliche Vereinigung» in diesem Jahr anlässlich der vielen Verfehlungen auf Abreiteplätzen herausgebracht hat. Was damit gemeint ist, lässt sich so einfach nicht sagen. Auf Nachfrage konnte mir bis dato keine Erklärung gegeben werden. Es ist davon auszugehen, dass damit gemeint ist, dass das Pferd aufgrund grober reiterlicher Einwirkungen vollkommen verkrampft mit nach oben gezogenen Vorderbeinen durch die Diagonale strampelt oder sich durch den zu kurzen Zügel verkrampft einrollen muss?

Würde heute noch die alte Weisheit gelten, «ein Vorlassen des Halses muss immer gestattet werden», dann wür­den wir nicht über «dysfunktionale Spannungen» im Bewegungsablauf sprechen müssen, denn dann würden die Pferde nicht verspannt und exaltiert traben und die Losgelassenheit des Pferdes würde wieder ihre wahre Bedeutung erhalten: Sie steht am Anfang und am Ende. Ohne ehrliche Losgelassenheit kann reelle Durchlässigkeit und damit ein langfristig gesundes Pferd nicht erreicht werden.

«Vereinzelt extrem tiefe Kopfposition»

Auch diese Ausführung konn­te in dem «Kriterienkatalog für das pferdegerechte Reiten auf Abreiteplätzen» gefunden werden. Ist hier der Begriff «Rollkur» oder der missglückte Kompromiss des «LDR» (Long, deep, round), mit dem Zusatz «…auf dem Abreiteplatz zehn Minuten oder auch etwas länger…», gemeint, um wieder einmal eine neue Formulierung zu kreieren oder möchte man dieses böse Wort, das für tierquälerisches Verhalten steht, nicht mehr so gerne in den Mund nehmen? Mit allen diesen Aussagen jedoch schafft man Missverständnisse statt Klarheit.

Ist das jetzt Rollkur oder LDR oder eine vereinzelt extrem tiefe Kopfposition in Verbindung mit einer engen Kopf-Hals-Haltung? Die Reiterin auf dem Foto praktizierte dies jedoch nachweislich eine ganze Stunde.

 

Unworte vermeiden?

Was soll mit diesen kreativen Formulierungen erreicht werden? Wollen wir unseren Betrachtungen einen wissenschaftlichen Anstrich geben oder wollen wir Unworte gerne vermeiden? Vielleicht wollen wir uns auch einfach nur der heutigen Zeit anpassen, die geprägt ist von vorsichtigen Formulierungen, um Fehler nicht klar zuschreiben zu müssen, damit man nichts auf den Punkt bringen muss, mit dem man das Gegen­über in Erklärungsnot für Fehlverhalten bringen könnte. Mit dieser blumigen Sprache erreichen wir immer mehr Unsicherheit und Platz für Spekulationen. Kaum einer weiss noch, was richtig und was falsch ist. Für das Pferd ist die Konsequenz allerdings immer gleich und immer einfach. Es zahlt immer den gleichen, hohen Preis: Nämlich den seiner Gesundheit. Und das lässt sich dann auch nicht mehr schön verpacken.

Bei der kleinen (jungen) Reiterin funktioniert das  Zusammenwirken der Hilfen noch nicht. Das Pferd hebt sich heraus. Es springt nicht korrekt durch, gibt den Rücken nicht her.

(Erschienen in der PferdeWoche Nr. 03/2015)

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