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Max E. Ammann
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Standpunkt

Alexander und Paul Rodzianko

17.11.2015 09:41
von  Max E. Ammann //

Ende der 60er-Jahre – ich lebte damals als Auslandskorrespondent in New York – hörte ich von Bill Steinkraus, dass der russische Olympiareiter von 1912, Alexander Rodzianko in New York lebe. Einige Wochen später besuchten Bill und ich den bald 90-jährigen General in seine Suite in Westbury Hotel in Manhattan. Ein Jahr später, am 6. Mai 1970, starb Rodzianko. Bill und ich gingen an die orthodoxe Abdankung. Der Raum war überfüllt mit trauernden älteren russischen Emigranten, die alle den aufgebarten toten General zum Abschied küssten.

Alexander Rodzianko war der ältere Bruder von Paul Rodzianko, dem langjährigen Trainer der irischen Springreiter. Von 1926 an, als die neu geschaffene irische Republik in den McKee-Barracks in Dublin durch Paul Rodzianko eine Springequipe aufbauen liess, gewannen John G. O’Dwyer, Daniel Corry,  Frederic A. Aherne, John Lewis und Cyril Harty bis 1939 23 Nationenpreise (damals gab es viel weniger als heute), darunter fünfmal beim damals bedeutenden CHIO Luzern und sechsmal in Ballsbridge (Dublin). Die beiden Brüder waren verschieden: Alexander war schlank und gross gewachsen, aristokratisch distanziert, mit einem gelegentlich speziellen Humor. Paul, so hörte ich, war fülliger, eher der Typ des jovialen Verkäufers. Alexanders bissigen Witz zeigte sein Kommentar bei einem Besuch im USET-Trainingszentrum in Gladstone. Als ihm der damalige Leiter von Gladstone, General Franklin Wing vorgestellt wurde, meinte der Russe: «Jedermann ist heutzutage General» («Everybody is a General these days»).

Karriere in drei Phasen

Die sportliche und berufliche Karriere von Alexander Rodzianko umfass­te drei Phasen: Bis zum Ersten Weltkrieg war er einer der erfolgreichsten russischen Springreiter, die damals zu den besten der Welt gehörten. Im ers­ten Weltkrieg diente er als Major und ritt zu Pferd in die Schlachten. Im Bürgerkrieg, nach der Revolution von 1919, kommandierte er als Generalleutnant ein Korps der Weissen Armee gegen die Bolschewiken. Ab 1920 trainierte er mit Erfolg die schwedischen Reiter für die Olympischen Spiele 1920, dann wäh­rend zehn Jahren die belgischen Spring- und Militaryreiter. Alexander und Paul Rodzianko waren die Söhne eines wohlhabenden Gross­grundbesitzers. Ihr Onkel war Mikhail Rodzianko, jahrelang Vorsitzender der Duma, des russischen Parlaments und später einer der Führer der Revolution – bevor er sich gegen die am Ende triumphierenden Bolschewiken stellte und die Weisse Armee von Denikin und Wrangel unterstützte. Alexander trat früh dem «Corps des Pages» bei, der Jugend-Militärakademie, wo die Söhne des Adels und der Generäle auf eine militärische Karriere vorbereitet wurden. Nach dem Abschluss wählte er als Regiment die «Chevaliers Guard». In dieser Truppe fiel er bald als talentierter Reiter auf. Als der Zar der Einladung Italiens folgte, für den ers­ten grossen Concours Hippique von 1902 in Turin eine Equipe zu senden, gehörte Alexander Rodzianko dazu.
In Turin waren die Russen ähnlich erfolglos wie die Deutschen. Während der deutsche Kaiser als Folge davon seinen Offizieren bis 1911 jegliche Auslandstarts verbot, reagierte der Zar positiver: Er entsandte seine Offiziere zum Lernen in Kavallerieschulen in Italien und Frankreich. Alexander Rodzianko kam so zu einem Jahr in den damals bedeutenden Kavallerieschulen von Saumur (FRA) und Pinerolo (ITA). In Pinerolo gehörte Federico Caprilli zu seinen Lehrern. 1911 ent­sandte der Zar eine zehn­köpfige Springreiter-equipe an das Turnier in die Londoner Olympiahalle. Unter ihnen war Alexander Rodzianko. 1912, 1913 und 1914 kamen die Russen erneut, und dreimal hintereinander gewannen sie den Nationenpreis um den King Edward VII Cup. Jedesmal gehörte Paul Rodzianko zum Team. 1914 durften die Russen den Pokal nach Hause nehmen – in den Revolutionswirren ging er verloren. 1912 gehörte Alexander Rodzianko zum russischen Aufgebot für die ersten Olympischen Reiterspiele in Stockholm. Der 32-jäh­ri­ge Hauptmann wur­de mit der Equipe Fünfter und im Einzel 16.

Oktoberrevolution

Als sich nach der Oktoberrevolution von 1917 der Widerstand gegen die Bolschewiken bildete, wurde der zum General-leutnant beförderte Alex­ander Rodzianko Kommandant eines Corps der Weissen Armee, stationiert im Norden Russ­lands. Im Oktober 1919 erreichten seine Truppen – unter dem Oberbefehl von Nikolai Yudenich – Petro­grad, das spätere Leningrad, heute St. Petersburg. Als im November die westlichen Alliierten die Unterstützung der Weissen Armee einstellten, kam das baldige Ende der Belagerung. Im Januar 1920 kam es zum Rückzug der Weissen Armee – viele der Offiziere setzten sich ins Ausland ab – Alexander Rodzian­ko nach Schweden, wo er bald die Vorbereitung der schwedischen Reiter für die Olympischen Spiele von Antwerpen übernahm. Dort gewannen die Schweden vier Gold-, zwei Silber- und zwei Bronzemedaillen – also acht von elf möglichen Medaillen. Darauf zog er nach Belgien, wo er zehn Jahre lang die Springreiter trainierte. 1931 kam Alexander nach Kanada und von dort in die USA, wo er über 30 Jahre lang in Bernardsville, New Jersey lebte.
Die Brüder Rodzianko waren nicht die einzigen zaristischen Offiziere, die nach der Oktoberrevolution und der Niederlage der Weissen Armee in den Westen emigrierten. Praktisch die gesamte Reiterelite verliess die Sowjetunion, darunter auch einige, die nie international geritten waren, wie Vladimir Littauer, der – in den USA lebend – einige wichtige Pferdebücher schrieb. Den neben den Rodziankos vielleicht grössten Einfluss der Exil-Russen hatte Karol von Rommel. 1912 ritt er für Russland in Stockholm – nach 1920 lebte er im wiederhergestellten Polen. 1924 und 1928 kam er für Polen zu zwei weiteren Olympiastarts. Von Rommel hatte grossen Einfluss auf die polnischen Springreiter, die in den Zwischen-kriegsjahren für ihren eleganten Stil bekannt und erfolgreich waren (16 Nationenpreissiege). Nach dem zweiten Weltkrieg verliessen viele dieser polnischen Offiziere ihr kommunistisch gewordenes Land und verbreiteten ihre Kenntnisse im Westen.
Paul Rodzianko, 1880 geboren, starb 1965. Alexander, 1879 geboren, starb 1970 in New York.

(Erschienen in der PferdeWoche Nr. 45/2015)

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