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Max E. Ammann
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Standpunkt

Die verschwundenen Amateure

25.02.2020 10:52
von  Max E. Ammann //

Fast 100 Jahre lang war die Amateurfrage das alles überschattende Problem der Olympischen Spiele. Erst in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurde der leidige Amateur-Profi-Komplex gelöst – symbolisiert durch den Auftritt bei den Olympischen Spielen von 1992 des «Dreamteams», der aus den besten Berufsspielern gebildeten US-amerikanischen Basketball­equipe, die die olympische Goldmedaille mit einer noch nie zuvor erlebten Dominanz gewann. Zuvor hatte die Amateurfrage jahrzehntelang zu Skandalen, Ungerechtigkeiten und Scheinheiligkeiten geführt. Von 1912 durch die Disqualifikation des olympischen Zweifachsiegers in Fünf- und Zehnkampf, Jim Thorpe, bis zum Ausschluss von den Olympischen Winterspielen von 1972 in Sapporo des österreichischen Skifahrers Karl Schranz. Man sprach von «Shamateurismus» und von Staatsamateuren. Bei den Letzten meinte man die Sportler des kommunistischen Ostens, von denen man wusste, dass sie, obwohl als Studenten oder Soldaten deklariert, auf Staatskosten vollzeitig trainierten und Wettkämpfe bestritten.

Avery Brundage

Herausragender Kämpfer für den olympischen Amateur unter gleichzeitiger Ignorierung der oben erwähnten Staatsprofis war der amerikanische IOC-Präsident Avery Brundage. Erst als Brundage nach 20 Jahren 1972 zurücktrat (er starb 1975), begann eine vorerst sanfte, dann konkrete Diskussion um die Amateurfrage. Zuvor, noch während der Amtszeit von Brundage, war 1970 der Versuch der Kanadier gescheitert, ihre NHL-Profi-Eishockeyspieler an den Olympischen Spielen teilnehmen zu lassen. Die Disqualifikation von Jim Thorpe 1912 erfolgte, weil der von Indianern abstammende zweifache Olympiasieger zuvor halb professionelles Baseball gespielt hatte und dafür entschädigt worden war. 1983, 30 Jahre nach seinem Tod, wurde Thorpe rehabilitiert. Karl Schranz wurde 1972 von Brundage von Olympia ausgeschlossen, nachdem ein Foto zirkulierte, auf der Schranz ein T-Shirt mit Kaffeereklame trug. Für den Hypokrit Brundage war der Fall Schranz eine letzte Möglichkeit, vor seinem Rücktritt seinen unerschütterlichen Kampf für den olympischen Amateursport zu demonstrieren.

Härtefälle im Reitsport

Dem Pferdesport blieben derartige öffentliche Ausschlüsse erspart. Aber die heute bizarr anmutende damalige Definition des olympischen Pferdesportamateurs schuf über die Jahrzehnte trotzdem Härtefälle und Ungerechtigkeiten. Bis zu den Olympischen Spielen von 1952 waren nur Berufs- und Milizoffiziere und Rotröcke, von denen man annahm, dass sie nicht ihren Unterhalt mit Pferdehandel oder Training verdienten, bei Olympia zugelassen. Ausgeschlossen waren Pferdehändler, Reitschulbetreiber und Reitlehrer, Bereiter im Unteroffiziersrang und Frauen. Diese Regelung galt ab 1912, als Springen, Dressur und Military erstmals ins olympische Programm aufgenommen wurden. Zwölf Jahre zuvor, als im Rahmen der Pariser Weltausstellung von 1900 fünf Wettbewerbe mit Pferden durchgeführt wurden, von denen drei Jahrzehnte später vom IOC als olympisch deklariert wurden, galten diese Teilnahmebeschränkungen noch nicht. So war das pferdesportliche Teilnehmerfeld 1900 in Paris die damals übliche Dreiermischung von Offizieren, reichen Herrenreitern und Berufsreitern. Baron de Coubertin, der Begründer der modernen Olympischen Spiele und ers­ter Verfechter des Amateur-Gedankens, hatte in seiner Heimatstadt nichts zu sagen. Das Diktat hatte der «Société Hippique Française» als Organisator des damaligen französischen Turnierbetriebes. So gewannen in Paris Berufsreiter drei der neun Medaillen.

Kuhn, Dégailler, Moser

Als 1924 die Schweiz erstmals Reiter an die Olympischen Spiele entsandte, waren vier der neun Offiziere Reitlehrer an der Regie in Thun respektive im Depot in Bern. Fünf waren Milizoffiziere. 1928 waren die Berufsoffiziere aus Bern und Thun mit sechs in der Überzahl – gegen nur noch drei Milizoffiziere. Einer der Berufsreitlehrer der Regie, Charles Kuhn, gewann Einzelbronze im Springen. Kurz darauf quittierte er den Dienst und übernahm eine private Reitschule in Zürich. Das bedeutete das olympische Ende für den in den 20er-Jahren wohl besten Schweizer Springreiter. Bei Louis Dégallier war es einige Jahre später umgekehrt. Dégallier war in den 30er-Jahren der erfolgreichste Schweizer Springreiter. Aber als Leiter einer privaten Reitschule in Genf war er olympisch 1936 nicht teilnahmeberechtigt. Dies änderte sich einige Monate später, als er als Reitlehrer ins Depot eintrat. Dann kam der Zweite Weltkrieg und die Olympischen Spiele von 1940 und 1944 fielen aus. Interessant der Fall des Regie-Bereiterwachtmeister Hans Moser, der 1934 ohne Absolvierung der entsprechenden Offiziersschule zum Leutnant befördert wurde. Die Verantwortlichen in Thun erkannten die ausserordentlichen Talente des jungen Bereiters und sahen das Olympiapotenzial. So ritt Moser 1936 als Leutnant olympisch in Berlin und wurde 1948 als Hauptmann Olympiasieger in London. Die Schweizer waren im Fall Moser gescheiter und fairer als die schwedische Armeeführung. Denn für London 1948 machten diese ihren besten Dressurreiter, Fahnenjunker Gehnäll Persson, zum Leutnant und gewannen mit ihm olympisches Mannschaftsgold. Zurück in Schweden wurde Persson wieder zum Fahnenjunker zurückgestuft. Das wurde bekannt und die Schweden verloren ihre Goldmedaille!
1952 durften dann auch Unteroffiziere olympisch mitreiten. Das Trio Gustav Fischer, Henri Chammartin, Gottfried Trachsel gewann die Dressur-Mannschaftsmedaille und brachte der Schweiz, später zusammen mit Marianne Gossweiler, die erste bis 1968 andauernde Erfolgsperiode – gefolgt ab 1973 von der zweiten, von Christine Stückelberger und Ulrich Lehmann angeführten Periode bis 1990.

(Erschienen in der PferdeWoche Nr. 8/2020)

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