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Max E. Ammann
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Standpunkt

Über die «Wildcard»

18.08.2020 13:32
von  Max E. Ammann //

Die Wildcard, vor allem bekannt aus dem Tennis, ist nichts Wildes. Es ist viel mehr, in den Augen des Gebers, ein verdientes Geschenk an einen Sportler, um ihm die Teilnahme an einem Grossanlass zu erlauben, für die er eigentlich nicht qualifiziert war. Auch im Pferdesport gibt es seit der Einführung des Weltcups 1978 Wildcards. Von ihnen soll hier erzählt werden. Eine Wildcard sollte im Idealfall dann an einen Sportler vergeben werden, wenn er keine Möglichkeit hatte, sich legitim für den Grossanlass zu qualifizieren, sei es wegen Krankheit, keiner Qualifikationsanlässe in annehmbarer Dis­tanz oder, im Falle des Pferdesports, verletzter Pferde. Eine Wildcard kann auch dann vergeben werden, wenn der Sportler die Qualifikation nur knapp verpasst hat oder wenn seine Teilnahme am Grossanlass eine Bereicherung wäre.

Wildcards vermeiden


Als wir 1977/78 das Weltcupreglement entwarfen, wollten wir Wildcards vermeiden. Es war klar, dass die Durchführung einer Weltcupprüfung einem Organisator zuvor nicht gekannte Bedingungen und Vorschriften bringen würde. Am Start waren einerseits die besten Reiter, andererseits sollten die Veranstalter weiterhin die Möglichkeit haben, Reiter ihrer Wahl einzuladen. Das erste Weltcupreglement enthielt drei Bestimmungen:
• Die ersten zehn der europäischen Computerliste (heute Weltrang­liste) haben automatisches Startrecht in jeder Weltcupprüfung.
• Nationale Verbände mit Reitern vom elften bis zum 60. Platz in der Computerliste durften an jedes Turnier ein bis zwei Reiter ihrer Wahl entsenden.
• Nationale Verbände, die eine Weltcupprüfung durchführten, durften einen Reiter an jedes Turnier entsenden.
Das ergab um die 25 Reiter, die ein westeuropäischer Veranstalter akzeptieren musste. Bei einem gewünschten Starterfeld von 32 bis 38 Reitern (ideal 35) blieben dem Veranstalter über zehn Startplätze. Damit mussten zuallererst die Ansprüche des betreffenden nationalen Verbandes für eine gewisse Zahl von «Heimreitern» befriedigt werden. Dem Veranstalter blieben aber meis­tens noch eine Handvoll Startplätze. Dieses System bewährte sich. Nicht zuletzt in Gesprächen zwischen Veranstalter und Weltcuporganisation konnte jedes Mal eine Lösung gefunden werden. Die Weltcuporganisation wollte vielleicht einem Reiter aus Übersee einen Startplatz sichern – der Veranstalter wünschte sich etwas mehr Wahlfreiheit.
Eine Wildcard, im Reglement eigentlich nicht vorgesehen, wurde jedoch bald bei der Qualifikation zum Weltcupfinal zum Thema. Dies bereits im Hinblick auf denjenigen 1980 in Baltimore, dem Abschluss der zweiten Weltcupsaison 1979/80. Wir hatten den Weltcup 1978/79 mit den zwei Ligen Europa und Amerika begonnen. Bereits in der zweiten Saison 1979/80 kam eine Pazifik-Liga dazu. Die zwei Bestplatzierten, John Fahey und Mariane Gilchrist aus Australien, kamen denn auch zum Final. Für 1980/81 planten wir eine vierte Liga: Südamerika. Die relative Nähe von Südamerika zu Baltimore brachte den Vorschlag, den Südamerikanern eine Startmöglichkeit zu geben. Das Weltcupkomitee beschloss, die in den Florida-turnieren reitenden Südamerikaner zu beobachten. Man war mit deren Leistungen zufrieden und vergab zwei der neu eingeführten Wildcards an Noel Vanososte aus Venezuela und Ricardo Gonçalves aus Brasilien. Nach diesen beiden ers­ten Wildcards wurden bis 2003 bei rund einem Dutzend Weltcupfinals weitere vergeben. Keine dieser erregte die Gemüter. Man fand sie berechtigt, ja in einigen Fällen gar als verdiente Belohnung.

Wildcard-Sieg für Kyrklund

Dies war nicht der Fall, als 1991 das Weltcupkomitee Dressur eine Wildcard für den Dressurfinal von 1991 in Paris vergab. Es war die Finnin Kyra Kyrklund, die diese erste Dressurweltcup-Wildcard erhielt. Mit ihrem Matador hatte sie im Jahr zuvor an den WEG die Silbermedaille gewonnen. Die Begründung für die Wildcard war, dass Kyrklund nur wenig Möglichkeiten gehabt habe, sich zu qualifizieren. Um auf den Kontinent nach Deutschland zu gelangen, wartet eine 36-stündige Schiffsreise auf der Fähre von Helsinki nach Travemünde. Überdies hatte ihr Matador gesundheitliche Probleme – deshalb habe sie keine der westeuropäischen Qualifikationen besuchen können. In Paris-Bercy gewannen Kyrklund als erste und einzige «Wildcard» den Weltcupfinal. Nun begann in Dressurkreisen eine Diskussion...


Von Bacon bis Wylde


Im Springreiterweltcup war es nie dazu gekommen. 1985 hatte das Weltcupkomitee für den Final in Berlin eine weitere Wildcard vergeben: an den Italiener Diego Deriu, der die Finalqualifikation nur knapp verpasst hatte. Für den Final von 1988 in Göteborg gab es zwei Wildcards. Eine erhielt der damals in Europa lebende Kevin Bacon, der auf Einladung drei der fünf Qualifikationen in Südamerika ritt und mit den Rängen drei, vier und eins vorzüglich abschnitt. Die andere Wildcard erhielt der Mexikaner Gerardo Tazzer. In der neu gegründeten Mexiko-Liga hatten drei Reiter fast die gleiche Gesamtpunktzahl erreicht: 43, 42, 41. Tazzer erhielt als Dritter die Wildcard.
Im Sommer 1991 kam die Australierin Colleen Brook nach Europa. Nicht zuletzt aus finanziellen Gründen nahm sie Domizil im seit 1989 kommunismusfreien Polen und bestritt vier der Qualifikationen in der Zentraleuropäischen Liga. Sie war jedes Mal Erste oder Zweite und erhielt eine Wildcard für den Final in Del Mar 1992. Drei Jahre später beendete Antonis Petris aus Zypern die Zentraleuropäische Liga auf Platz vier. Man fand es schön, den einzigen Spitzenreiter der Insel im Final zu haben und gab ihm eine Wildcard.
In der Saison 1995/96 platzierte sich eine junge Schwedin, Malin Baryard, nie schlechter als Fünfte in ihren vier Starts. Das reichte allerdings nicht für eine Qualifikation. Nach der letzten Qualifikation in Göteborg beschloss das Weltcup­komitee, ihr für den Final von 1996 in Genf eine Wildcard zu geben. Dort endete sie als vorzügliche Siebte, mit 21 Jahren.
In der Saison 1998/99 lagen nach der letzten Wertungsprüfung in der Dortmunder Westfalenhalle drei Amazonen auf dem letzten Qualifikationsplatz: Lesley McNaught, Meredith Michaels und Alexandra Ledermann. Die Schweizerin hatte die besseren Einzelklassierungen und war für den Final qualifiziert. Ein Telefonat mit dem Präsidenten des Finals in Göteborg ergab ein grosses Interesse am Start aller drei. Damit einverstanden waren auch die in Göteborg anwesenden Mitglieder des Weltcupkomitees. In Göteborg endeten McNaught und Michaels auf dem geteilten sechsten Platz, Ledermann als Zwölfte. Die letzte Wildcard meiner Weltcupjahre wurde 2003 an den Amerikaner Peter Wylde vergeben. Es war ein gemeinsamer Wunsch des amerikanischen Verbandes, des USET (U.S. Equestrian Team) und von Las Vegas Events, dem WM-Dritten von 2002 eine Wildcard zu geben. Er endete in Las Vegas als Zwölfter.

(Erschienen in der PferdeWoche Nr. 33/20)

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