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Annemarie Gebs longiert ihren eigenen Wallach Tamiro in der Reithalle in Russikon ZH.
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Voltigieren – das persönliche Elixir

04.04.2017 15:30
von  Peter Wyrsch //

Voltigieren, turnerisch-gymnastische Übungen auf dem Pferd, ist ihr Elixir. Annemarie Gebs senior, die seit 16 Jahren mit dem Inder Shabir Dar verheiratete Longenführerin, gilt als Pionierin der Schweizer Voltigierszene. Die akrobatische Turnkunst hoch zu Pferd und die Schulung von «Voltis» von der Pike auf bis zur Weltklasse ist für die Pfarrerstochter Reizmittel und Stimulans zugleich. Die mit 23 Schweizermeistertiteln und siebenmal WM- oder EM-Gold dekorierte Gruppenführerin ist die erfolgreichste Schweizer Reitsportlerin, auch wenn Voltigieren (noch) keine Olympiasportart ist.

Auf Schloss Grüningen wuchs die Pfarrerstochter auf. Mit zehn Jahren turnte sie – verbotenerweise – auf Bauernpferden herum. Die Liebe zu den Pferden war geboren. Das erkannte auch ihr Papa. Er schenkte ihr ein Abonnement in der Reitschule Brütsch in Schlatt. Seine Tochter sollte richtig reiten lernen. Sie tat es auch und sass, oft parallel zu ihrer Tätigkeit als Voltigiertrainerin, auch erfolg­reich im Sattel von Dressur-, Spring- und Vielseitigkeitspferden in Wettkämpfen bis in die Kategorie M. Jede freie Minute verbrachte das damalige Fräulein Habegger, vor oder nach ihrem Berufs­alltag als Sekretärin des Baudepartements in St. Gallen, mit Pferden. Da lernte sie auch ihren nachfolgenden Gatten, Ewald Gebs, kennen. Anfang der 70er-Jahre vermochte sie sich in der Notkersegg hoch oben über der Stadt St. Gallen für Gruppen­sport mit Pferden und Kindern zu begeistern. Animiert von Paul Lorenz, dem zehnfachen deutschen Meister, der das grosse Buch vom Volti­gieren für Jugendliche verfass­te, gründete sie ihre erste Gruppe. Es entstand ein Voltigeboom in St. Gallen und wurde zu einer Tradition. Fortan war die Gruppe des Reitklubs St. Gallen über zwei Jahrzehnte lang bis Ende des vorherigen Jahrhunderts das Mass aller Dinge. Und dies nicht nur national, was 23 Meis­tertitel belegen. Auch international stiegen die St. Gallerinnen regelmässig aufs Treppchen. Viermal EM- und dreimal WM-Gold, dazu zahlreiche zweite und dritte Ränge, dokumentierten die Fortschritte. Die jahrelang übermächtigen Deutschen waren gefordert und wurden oftmals auch überflügelt. Erstmals triumphierte die strenge und viel Wert auf Disziplin legende Annemarie Gebs mit ihren Schützlingen an der WM 1988 in Ebreichsdorf. Die St. Galler Gruppe gewann auch Gold 1990 an den ers­ten Weltreiterspielen in Stockholm und verteidigte den Titel vier Jahre später in Den Haag. Dazu kam viermal EM-Gold: 1989 in Drzonkow in Polen, 1991 an der Heim-EM in Bern, 1993 in Den Haag und letztmals 1999 in Nitra in der Slowakei.

Annemarie Gebs vor ihrem Trophäenschrank in Zell ZH.  

Annemarie Gebs mit ihrem Lebenspartner Shabir. 

Von Churchill, Dagobert und Casanova

Wenn Annemarie Gebs von Churchill spricht, redet sie nicht über den bedeutends­ten britischen Staatsmann Winston Churchill. Wenn sie Dagobert erwähnt, meint sie nicht Dagobert Duck, die geldgierige Comicfigur von Walt Disney. Und Casanova ist für sie nicht der venezianische Schriftsteller und Lebemann mit zahlreichen Liebschaften. Nein, das sind Namen ihrer geschätzten Voltigierpferde. «Casanova war der Beste. Er war zierlich, aber zuverlässig und drehte seine Runden so exakt wie ein Uhrwerk. Der Dunkelfuchs war ein ehemaliges Militarypferd und hatte zu mir ein besonderes Vertrauen», erzählt Annemarie Gebs schwärmerisch von ihrem Pferdeliebling. «Wir kauften ihn den Deutschen vor der Nase weg. Sie zögerten wegen einer gesundheitlichen Lappalie, wir nicht. Sechs Wochen später waren wir mit Casanova Weltmeis­ter. Später, nach unserem EM-Gold 1991 in Bern, wollten ihn die geschlagenen Deutschen abwerben. Wir schlugen die Offerte aus und haben es nie bereut.»

«Voltige-Mama» Gebs mit ihrer Voltigegruppe in Paris. 

Der Rücktritt vom Rücktritt

Ende 1999 hatte Annemarie Gebs aber genug. Sie trat zurück und übergab die Verantwortung ihrer Tochter Annemarie. Sie nahm sich eine Auszeit. Diese führte die anerkannte Diplomtrainerin des SVPS für zwei Monate nach Indien. Auch familiäre Probleme führten zu einer Luftveränderung und einer Neuausrichtung. In Indien lernte sie vor 18 Jahren Shabir kennen. Inzwischen ist er längst ihr Gemahl, lebt mit Annemarie zusammen in einer kleinen Eigentumswohnung im zürcherischen Zell im Tösstal und hat sich vom Voltigierfieber anstecken lassen. Annemarie war wieder motiviert, für das Leben und ihren geliebten Sport. «Voltigieren ist mein Leben. Meine Freude ist nunmehr am grössten, wenn ich Kindern mit meiner Arbeit und meinen Pferden etwas fürs Leben mitgeben kann. Die Voltigierer lernen, eine Beziehung aufzubauen, Verantwortung für ein Lebewesen zu übernehmen, Willen zu entwickeln und durchzubeissen.» Zu ihren Schülern zähl(t)en Kinder von Professoren und Doktoren, Ärzten, Rechtsanwälten, Lehrern und Hilfsarbeitern. «Bei mir zählen Einsatz, Willen und Talent, nicht das Elternhaus», fügt Voltige-Mama Gebs an. Auch der spätere St. Galler Einzelweltmeister und Weltcupsieger Patric Looser oder Monika Winkler-Bischofberger, die heutige Grandedame der helvetischen Voltige-szene, übten einst unter Annemarie Gebs’ Anleitungen. 

Annemarie Gebs war auch in anderen Disziplinen erfolgreich, wie hier am Military in Frauenfeld TG mit Fakir.

Die Gruppe Calimero

Derzeit unterrichtet sie mit ihrem Mann Shabir Dar die Voltigegruppe Calimero in Russikon. Sie erteilt aber immer wieder auch Kurse in Vereinen, in Verbänden wie dem OKV oder ZKV. «Seit zwei, drei Jahren unterstütze ich auch eine Voltigegruppe aus Ungarn und ich habe schon Teams in Österreich, Italien, England, Brasilien und den USA aufgebaut und geschult. Ich reise eben auch gerne. Neben Voltigieren sind Reisen mein grosses Steckenpferd.» Im Winter zieht es sie mit ihrem Shabir wieder nach Indien. «Ich mag die Leute dort. Sie sind umgänglicher und zufriedener als die Menschen bei uns, obwohl die meisten bescheidener leben.» Wenn sie dies in ihrer Wohnung am Esstisch erzählt, funkeln ihre Augen. «Ja, es ist die Wärme, die innerliche und äusserliche, die ich schätze.» Auch die indische Küche mag sie: scharf, pikant, würzig. Gewürze wie Curry, Pfeffer, Chili, Koriander, Kurkuma oder Kardamon, um nur einige zu nennen, finden sich in ihrer Küche. «Shabir ist meistens unser Koch. Sein Dal, das vorwiegend aus Linsen besteht, schmeckt mir einfach vorzüglich.» Eine grosse Vitrine im Wohnzimmer weist auf die zahlreichen Auszeichnungen hin, die Annemarie Gebs mit ihrer St. Galler Gruppe gewonnen hat. Da sind unzählige Medaillen, Pokale, Ehrenpreise und Diplome zu bestaunen. An den Wänden hängen Pferde- und Gruppenbilder – Erinnerungen an ihre Voltigierpferde und ihre Gruppen. Doch nun blickt sie auf die Uhr. Nach dem Mittagessen ist Longiertraining angesagt. Shabir ist schon vorausgegangen. Annemarie fährt nach Russikon in den Pensions- und Ausbildungsstall Wagner. Dort hat sie ihre zwei Voltigierpferde, den 22-jährigen Leonardo da Vinci, ein ehemaliges Springpferd, und den 14-jährigen Wallach Tamino untergebracht. Shabir ist mit dem Longieren in der Halle fast fertig. Er hat schon grosse Erfahrung im Umgang mit Pferden und seine Ruhe überträgt sich auf die Lebewesen. Das ist sofort ersichtlich. Es bedarf nur weniger Korrekturen seitens der erprobten Annemarie, die bald ihre Gruppe zum Training erwartet. Dann wird sie wieder in ihrem Element sein und pferdesportbegeis­terten Kindern den idealen Einstieg in die Welt des Pferde- und des Voltigiersports vermitteln.

Gebs mit dem erfolgreichen Voltigierer Patric Looser.

Annemarie Gebs mit der Stute Paddy, ihrem ersten Voltigepferd.

 

 

(Erschienen in der PferdeWoche Nr. 13/2017)

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