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Max E. Ammann
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Standpunkt

300 Kilometer in 40 Stunden

24.07.2018 12:42
von  Max E. Ammann //

Vor mir liegt ein 50-seitiges Bändchen. Auf dem Umschlag heisst es: «In 40 Stunden von Zürich über Luzern, Brienz, Bern, Sursee nach Zürich». Geschrieben hat es 1899 der Oberleutnant im Dragoner Regiment 7, Schwadron 19, Adolphe Stoffel. Zur Verfügung gestellt hat es mir Thomas Frei vom «Kavallo», als Dokumentation für das Kapitel Distanzreiten im kommenden Jubiläumsband «120 Jahre Pferdesport Schweiz».

Es ist eine faszinierende Lektüre über den erst zweiten Distanzritt überhaupt in der Schweiz: den Aufwand bei der Planung, der Organisation und dann die persönlichen Erlebnisse und Erkenntnisse des Autors, der die 306 Kilometer in 39 Stunden und 56 Minuten als Zweiter beendete.
Adolphe Stoffel lebte damals im Schloss Arbon, wo die Familie Stoffel von 1822 bis 1907 ihre erste Fabrik, eine Seidenbandweberei, betrieb. Wie Adolphe Stoffel, der Miliz­offizier der Kavallerie, mit dem späteren Olympia­reiter Charley Stoffel und dessen Sohn Alexander verwandt war, konnte noch nicht abgeklärt werden, Adolphe könnte ein Onkel von Charley gewesen sein.
1898 hatte der Westschweizerische Kavallerieverein einen ersten Dis­tanzritt in der Schweiz durchgeführt: von Lausanne nach Basel (dort mit Zwangshalt) und zurück nach Lausanne. Zu dieser Zeit waren über­all in Europa und den USA Distanzritte, «Raids» genannt, äusserst populär. Nicht zuletzt der doppelte Kaiserritt von 1892 (Wien–Berlin res­pektive Berlin–Wien über jeweils rund 600 Kilometer) wurde viel beachtet. Der berüchtigte Raid Brüssel–Ostende von 1902, als 16 Pferde umkamen, stand noch bevor.
Im Sommer 1899 versandte der Reitklub Zürich, unterschrieben vom Präsidenten, Oberst Hermann Bleuler, Kommandant des 3. Armeekorps, eine Einladung an alle Schweizer Offiziere, zur Teilnahme an einem Distanzritt von 14. bis 16. Oktober 1899. Meldeschluss am 8. Oktober, Nenngeld 20 Franken. Als Preisgeld wurde den vier Ersten 500, 300, 200 und 100 Franken bestimmt. Weiter wurde eine Transportentschädigung offeriert: 25 Rappen pro Kilometer, allerdings nur auszahlbar, wer die 300 Kilometer innert 60 Stunden abgeritten hat und mit einem diensttauglichen Pferd angekommen war.

Ein Dutzend am Start

Nur gerade zwölf Offiziere nahmen die Einladung an. Diese wurden, nach dem Gewicht des Reiters, gewogen ohne «Säbel, Ersatzeisen und Pferdeausrüstung», in zwei Kategorien eingeteilt. 75 Kilogramm war die Trennung zwischen der leichten und schweren Kategorie. Unser Autor, Oblt. Stoffel, wog 90 Kilo und war der Schwers­te des Dutzends. Oblt. E. Neher aus Bern – der schliessliche Sieger der leichten Klasse, wog nur 61,5 Kilogramm. Er ritt den einzigen Vollblüter im Starterfeld und mit sechs Jahren das jüngste Pferd.
Aus nicht ganz klaren Gründen teilte man die Starter weiter auf. Nach Losentscheid musste in jeder Kategorie die eine Hälfte die 300 Kilometer in Richtung Adliswil–Cham–Luzern–Sarnen–Brünigpass–Brienz in Angriff nehmen, die andere Hälfte umgekehrt: Richtung Sursee, Bern.
Um vier Uhr morgens erfolgte der Start bei der Mil­itärstallung an der Gessnerallee. Alle zehn Minuten ritt einer los, ­abwechselnd Richtung ­Brienz oder Richtung Sursee. Somit waren die Reiter mit 20 Minuten Abstand unterwegs. Drei Kontrollstellen mussten passiert werden: vor dem Hotel Bären in ­Brienz, dem Hotel Schweizerhof in Bern und dem Hotel Hirschen in Sursee. «Wegmacher», also Velozipedis­ten, wie es heisst, oder Begleitreiter, waren nicht erlaubt.
Für unseren Autor mit der zwölfjährigen braunen Ostpreussenstute Margaretha ging es um 4.20 Uhr los. Stoffel plante drei Ruhehalte: 1,5 Stunden in Sarnen, 2,5 Stunden in Bern und 1,5 Stunden in Sursee. In Sarnen, nach 78 Kilometern, kam er nach sieben Stunden an. Nach Überquerung des Brünigpasses (1000 Meter über Meer) machte Stoffel in Interlaken bei seinem Freund Hptm. Töpfer, dem Besitzer des Hotels Beau Rivage, einen «Souper»-Halt. Nach 30 Minuten Verpflegung ritt er weiter.
Um 30 Minuten nach Mitternacht traf er in Bern ein. Nach dem Weiterreiten verirrte er sich in der Dunkelheit, statt auf der Kirchenfeldbrücke fand sich Stoffel auf der Kornhausbrücke. Dazu «vertrat» sich das Pferd auf den Tramschienen. Trotz­dem traf er neun Stunden später in Sursee ein. Es war zwölf Uhr mittags und so genehmigte er sich etwas Sekt zur Erfrischung. Ein Schmied «brachte den Beschlag wieder in Ordnung». Über Rudolfstetten, Schlieren, Altstetten traf Stoffel um 20.16 Uhr in der Gessner­allee ein: 306 Kilometer in 39 Stunden und 56 Minuten.

Diensttauglich?

Am Ziel wartete das Schieds- und Preisgericht unter der Führung von Kavallerie Oberst Ulrich Wille, dem späteren General. Es wurde kontrolliert, ob das Pferd «nicht über ein erlaubtes Mass hinaus in Anspruch genommen wurde». Am nächsten Morgen kam die zweite Kontrolle. Es wurde geprüft, ob das Pferd wieder diensttauglich sei. Die Pferde muss­ten 1000 Meter galoppieren, 1000 Meter traben und zwei Hindernisse überwinden: einen ein Meter breiten Graben und eine 70 Zentimeter hohe Hecke.
Am Ende konnten von den zwölf Startern nur fünf klassiert werden: vier der fünf Pferde der schweren Kategorie, und nur eins der sieben Starter der leichten Kategorie. In der schweren Kategorie siegte der Kavallerie-Major T. de Loys aus Thun auf dem siebenjährigen in England gezogenen Wallach Benus. De Loys wog «nur» 83 Kilo. Zweiter wurde Oblt. Stoffel. Inte­ressant ist, dass De Loys Richtung Sursee ritt, Stoffel Richtung Brienz. Die Zeit von De Loys war 37 Stunden, sieben Minuten, also knapp zweieinhalb Stunden schneller als Stoffel. Der langsamste der fünf Finisher, Oberstdivisionär Schlatter, brauchte 59,5 Stunden.
In seiner Schlussfolgerung verlangt Oblt. Stoffel, dass nicht mehr in zwei Klassen geritten werde, und schon gar nicht nach Gewichtsunterschieden. Auch das Zweirichtungssystem sei falsch. Überdies sollte dem Reiter verboten sein, sich telegrafisch oder telefonisch zu erkundigen. Dieser Dis­tanzritt von 1899 hatte keine Auswirkungen.  Es kam zu keiner Wiederholung. Bekannt ist ein Dis­tanzritt Sursee–Basel aus dem Jahre 1902, mit dem Sieger Lt. Edwin Schwarzenbach, dem Onkel vom späteren Military-Europameister Hasi Schwarzenbach.

(Erschienen in der PferdeWoche Nr. 29/18)

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