Suche
Max E. Ammann
Previous Next
Standpunkt

John Russell (100) verstorben

17.11.2020 09:38
von  Max E. Ammann //

John William Russell, olympischer Springreiter 1948 und 1952, der am 30. September, ein halbes Jahr nach seinem 100. Geburtstag, gestorben ist, war in Europa wenig bekannt – obwohl er 1952 als erster Nicht-Deutscher das Deutsche Springderby in Hamburg gewann. In den USA gehört er zu den ganz Grossen: als Springreiter und noch mehr als Trainer im Modernen Fünfkampf. Im Zweiten Weltkrieg war die amerikanische Kavallerie mechanisiert worden. 1942 ritt sie auf den Philippinen die letzte Attacke zu Pferd. Als nach Kriegsende die Olympischen Spiele näher rückten, an denen die US-Kavallerie seit 1912 die amerikanischen Reiter gestellt hatte, beschloss die Armeeführung, ein Dutzend ihrer talentiertesten Kavallerieoffiziere wieder beritten zu machen. 1947 wurden sie in der alten Kavallerieschule von Fort Riley in Kansas zusammengezogen und später nach München verlegt, wo sie sich auf Olympia vorbereiteten. Die Pferde kamen zum Teil aus amerikanischem Privatbesitz, zum Teil waren sie «Beutepferde» aus Deutschland. Zu den Offizieren gehörte der mit 25 Jahren jüngste, Capt. John W. Russell. Russell hatte in der mechanisierten US-Kavallerie im Zweiten Weltkrieg gedient. 1944 war er in der mehrmonatigen Schlacht um Monte Cassino verwundet worden.

Rang 21 in London

1948 ritten sieben der Offiziere an den Olympischen Spielen in London. Die Military­equipe gewann Gold, die Dressurreiter Silber und nur die Springreiter mit John Russell blieben ohne Medaille. Einer der drei Reiter schied aus, Russell ritt auf Rang 21. Zuvor hatte die amerikanische Springreiterequipe den CHIO Luzern bestritten, wo das Quartett Col. Franklin Wing, Col. Andrew Frierson, Col. Charles Symroski und Capt. John Russell den Nationenpreis gewann. Auch in Dublin, einige Wochen später, siegten die USA mit John Russell.

Qualifikation für Helsinki

Nach den Olympischen Spielen, im Herbst 1948, wurde das berittene Armeeteam aufgelöst. 1950 wurde das zivile «United States Eques­trian Team» (USET) gegründet. Einer, der sich an den zivilen Olympiaausscheidungen für 1952 beteiligte, war der nunmehrige Major John Russell. Er qualifizierte sich für Helsinki, zusammen mit dem damals führenden Zivilreiter Arthur McCashin, der Amazone Carol Durand und dem jungen Bill Steinkraus als Reserve. Als die FEI die Teilnahme von Frauen im Springen und in der Military ablehnte (in der Dressur waren sie 1952 erstmals dabei) rückte Steinkraus für Durand ins Team. In Helsinki ritten alle drei im schwarzen Rock, auch der Offizier Russell. Sie gewannen Mannschaftsbronze. Russell ritt in Helsinki den 19-jährigen Democrat, mit dem der spätere General Wing 1948 Olympiavierter geworden war. Vor dem Olympiastart hatte Russell mit dem in Texas gezogenen Quarter Horse Rattler das Deutsche Springderby gewonnen. Nach Helsinki kehrte John Russell zur Armee zurück und war 1953–1956 Kommandant des Hauptquartiers des zweiten Armeecorps in Deutschland. Wieder in Uniform ritt er in Deutschland bei nationalen Turnieren, aber auch 1955 an der Springreiter-WM in Aachen.

Moderner Fünfkampf

Als sich sein potenzielles Olympiapferd vor den Olympiaausscheidungen für 1956 verletzte, trat er vom aktiven Springsport zurück. Nun als Oberstleutnant wurde er zum Leiter des amerikanischen Trainingszentrums der Modernen Fünfkämpfer in Fort Sam Houston, Texas, berufen. Als Equipenchef und Trainer führte er die amerikanischen Fünfkämpfer an sechs Olympische Spiele und 22 Weltmeisterschaften. 1977 organisierte er in San Antonio die WM. Nach seinem Rücktritt betrieb er das «Russell Equestrian Center» in San Antonio, Texas, und er amtierte als Springrichter.

Erfolgreich und stilvoll

Währenddem Russell ab 1956 in Texas die amerikanischen Fünfkämpfer betreute, verpflichte das USET den einstigen ungarischen Husarenoffizier Bert de Némethy als Trainer der Springreiter. Mit Bill Steinkraus, Frank Chapot, George Morris und Hugh Wiley schuf De Némethy eine Springequipe, die nicht nur ihrer Erfolge wegen, sondern auch wegen ihres stillvollen, uniformen Reitens in Europa wie in Amerika Aufsehen erregte. 1958 gewann das Quartett den Nationenpreis in London, 1959 in Rom und wieder in London, 1960 in Luzern und erneut in London. Als Wiley und Morris nach den Olympischen Spielen von 1960 in Rom zurücktraten (Morris, um als Schauspieler aufzutreten, bevor er einige Jahre später als Trainer in den Pferdesport zurückkam) kamen ab 1961 die beiden Amazonen Kathy Kusner und Mary Chapot in die Equipe des USET.
John Russell, der Vorgänger dieser ersten amerikanischen Siegreiter feierte am 2. Februar 2020 seinen 100. Geburtstag. Am 30. September 2020 starb er.

Unbewiesene Zweifel

P.S.: Russell hat einmal erzählt, dass seinerzeit in Hamburg der ers­te nicht-deutsche Sieg in «ihrem» Derby – der damals wich­tigs­ten Springprüfung Deutschlands – nicht sehr gnädig aufgenommen worden war. Zuerst zweifelte man, Rattler sei ein texanisches Quarterhorse. Es sei doch ein deutsches «Beutepferd», das die US-Army 1945 wie so viele Pferde aus Deutschland mitgenommen habe. Als man beweisen konnte, dass Rattler in El Paso, Texas, geboren wurde, versuchte man, aus Russell einen Deutsch-Amerikaner zu machen. Man verwies auf die in Deutschland lebendenden Russell und war überzeugt, John sei ein Nachkommen von deutschen Auswanderern. Auch das konnte als nicht zutreffend bewiesen werden.

(Erschienen in der PferdeWoche Nr. 46/2020)

[...zurück]