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Max E. Ammann
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Standpunkt

Frühe Dauer- oder Distanzritte

25.07.2017 13:10
von  Max E. Ammann //

Seit 1983 gehört das Distanzreiten zur FEI und seit 1984 gibt es WM und EM. Die Aufnahme des Distanzreitens in die FEI war grösstenteils der Verdienst von ELDRIC, der «European Long Distance Riders Conference», die einige Jahre zuvor gegründet worden war und die die lange vergessenen Dauerritte ins sportliche Leben zurückrief. Der Schweizer Georg Riedler spielte dabei eine führende Rolle. Dauerritte – oder «Raids» – waren vor dem ersten Weltkrieg äusserst populär. Von 1884 bis 1914 kam es zu rund 100 Raids, von denen es einige zu Be­rühmtheit gebracht haben. Dies allerdings nicht immer im positiven Sinne, was, so kann man annehmen, mit dazu geführt hat, dass diese «Raids» nach dem ers­ten Weltkrieg kaum mehr stattfanden und erst nach 1970 in Form der ELDRIC/FEI-Dis­tanzritte wiederbelebt wurden. Ein weiterer Grund für das Verschwinden der «Raids» nach 1918 war die Mechanisierung der Armeen: Grosse Verschiebungen zu Pferd waren nicht mehr notwendig. Drei Bücher in meiner Bibliothek geben Aufschluss über einige der wichtigsten «Raids» jener Jahre:

• 1892 Der doppelte Kaiserritt Wien-Berlin und Berlin-Wien, verfasst vom Sieger Berlin-Wien, Freiherr von Reitzenstein.

• 1902 Der berüchtigte Raid Brüssel-Ostende, bei dem 16 Pferde umkamen, verfasst von einem Cmdt. Smits des ersten Guidenregiments.

• 1903 Der erste Raid National Paris-Rouen-Deauville, verfasst vom Sieger, Paul Bausil.

Neben diesen drei bedeutenden «Raids» sind einige weitere Dauerritte erwähnenswert: Der erste verbürgte längere Ritt führte im Jahre 1678 von Wien nach Wiener Neustadt, über 28 Kilometer. 200 Jahre später, 1887, kam es zu einem von Schweden organisierten Ritt von Estland nach Lettland, über 250 Kilometer von Jurjew nach Riga. Der Sieger brauchte 20 Stunden und 45 Minuten. 

Schweizer «Raid»

Mitte der 80er-Jahre des 19. Jahrhunderts wurden in Frankreich immer mehr «Raids Militaires» ausgetragen, 1986 Beaune nach Vichy, 1905 Lyon nach Aix-les-Bains und 1914 Biarritz nach Paris über 720 Kilometer. 1908 ritt man von Budapest nach Wien. Auch in der Schweiz gibt es über Dauerritte zu berichten. So 1899, als der Reitclub Zü­rich einen Ritt von Zürich über Bern nach Thun über den Brünig nach Luzern und zurück nach Zürich durchführte. Acht Offiziere waren am Start, sechs kamen ins Ziel, dies nach 305 Kilometern. Die Siegerzeit von Kavalleriemajor De Loys mit dem achtjährigen in England gezogenen Beano betrug 37 Stunden und sieben Minuten. Es wurde mitgeteilt, dass das Pferd unterwegs 16 Kilo Hafer, acht Kilo Heu, vier Kilo Brot und ein Kilo Zucker frass. Während 58 der 305 Kilometer lief der Major neben seinem Pferd. 1902 kam es zu einem «Raid» Sursee–Basel mit einem Leutnant Schwarzenbach als Sieger.

Militärischer Nutzen

Zurück zu den drei Eingangs erwähnten bekanntesten Distanzritten: Der doppelte Kaiserritt von 1892 führte über rund 600 Kilometer: von Wien nach Berlin und von Berlin nach Wien, wobei in Wien etwas früher losgeritten wurde. Der Autor des Berichtes, der Freiherr von Reitzenstein, war Rittmeister in einem westfälischen Kürassierregiment. Er legte als Sieger die Berlin–Wien-Strecke von 597 Kilometer in 73 Stunden und sechs Minuten zurück. Der Sieger von Wien-Berlin, Graf Starhemberg, war mit 71 Stunden und 27 Minuten etwas schneller. Da freie Wegwahl bestand, abgesehen von den Verpflegungsorten, variierten die gerittenen Dis­tanzen von unter 600 Kilometer bis zu 630 Kilometer. Freiherr von Reitzenstein hatte in Belgien für den Ritt eine zehnjährige, in England gezogene Vollblutstute für 1500 Francs erworben. Dazu verpflichtete er als Begleiter einen Radfahrer des Deutschen Radfahrerbundes. Die Strassen und Wege waren allerdings teilweise so schlecht, dass der Radfahrer einige Male die Eisenbahn besteigen musste. Da die Dis­tanzritte ausschliesslich von Offizieren bestritten wurde, legte man Wert auf einen militärischen Nutzen – extrem wichtig war ein Ankommen. Aus diesem Grunde war denn auch der Konditionspreis fast so hoch wie das Siegesgeld. Rittmeister von Reitzenstein rechnete vor dem Start mit drei Tagesetappen zu je 200 Kilometer – oder vier Minuten pro Kilometer. Während seinem Ritt erlaubte er dem Pferd acht Stunden Ruhe. Es erhielt zweimal je fünf Kilo Hafer und, je nach Bedürfnis, einen lauwarmen Mehltrank. Zur Verdauungsförderung gab es Karlsbader Salz. Am ers­ten Tag erhielt der Rittmeister die Meldung, ein Teilnehmer aus Wien sei nach 74 Stunden in Berlin eingetroffen. Am zweiten Tag kam die Meldung, Graf Starhemberg habe für die Strecke zwei Stunden weniger gebraucht. Erst kurz vor dem Ziel in Floris bei Wien hörte der Rittmeister die genaue Siegerzeit von 71 Stunden und 26 Minuten. Zu diesem Zeitpunkt war er selber bereits darüber und so verpasste er den Gesamtsieg, wurde aber immerhin Erster in Wien. Da half auch nicht, dass er seiner Stute beim letzten Halt ein in Cognac getränktes Stück Brot gab. Nach der Ankunft legte sich sein Pferd auf die Strasse und blieb einige Stunden liegen. 24 Stunden später starb es im Stall an einer Lungen­entzündung. Das Siegerpferd des Grafen Starhemberg starb nach dem Zieldurchritt an einem Herzschlag.

Schweizer Diplom

Beim Raid Brüssel-Ost­ende starteten 61 Pferde, von denen 16 starben. 29 wurden klassiert. Die Hälfte der Teilnehmer kam aus Belgien. Darunter die bekannten Springreiter Charles de Selliers de Moranville und Aimé Haegeman, die Brüder Constant und Charles van Langhendonck, sowie der spätere Olympiadritte im Springen von 1912, Emmanuel de Blom­maert. 17 der Starter waren Franzosen, auch damalige Springstars wie P. E. Haentjens, Madamet, Paul Bausil und Charles Daquilhon-Pujol. Sieben kamen aus den Niederlanden, so der Jonkheer Godin de Beaufort und der spätere FEI-Präsident, Gerrit J. Maris. Dazu kamen ein Engländer, ein Norweger, ein Russe, ein Schwede und ein Schweizer: Artilleriehauptmann Senn aus Basel. Er ritt als 25. ein und erhielt ein Diplom. Der Ritt führte über 134 Kilometer – der Sieger, Dragonerleutnant Madamet, brauchte sechs Stunden und 54 Minuten. Zweiter wurde der belgische Artillerieleutnant De Muynck vor einem weiteren französischen Dragonerleutnant, P.E. Haentjens. Von 61 Pferden waren 13 Vollblüter, darunter das Siegerpferd Courageux. Nicht weniger als 17 Pferde waren Irländer. Bei den Franzosen gab es zwei Angloaraber und drei Normanen, der Rest wurde als Halbblut aufgeführt. Der Bericht des Siegers von Paris-Rouen-Deauville von 1903, Paul Bausil, erschien 1906 als deutsche Übersetzung in der Königlichen Buchhandlung Mittler in Berlin. Ein Freiherr von Esebeck, Oberleutnant im zweiten Pommerschen Ulanenregiment Nummer neun, übersetzte Bausils Text und stellte ihn unter den Slogan «Zu Nutz und Frommen aller deutschen Reitersleute». Für den deutschen Ulanen von Esebeck war Bausils Text weniger ein Rapport über den von ihm gewonnenen «Raid», denn eine eigentliche Lehre: über Training, Ausrüs­tung, Ernährung und medizinische Angaben.

(Erschienen in der PferdeWoche Nr. 29/2017)

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