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Das gegenseitige Vertrauen hilft gegen die Angst.
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Die Angst lässt sich besiegen

14.12.2010 15:13
von  Christine Lange //

Wir träumen von entspannten Ritten durch Wald und Flur, von er­frischenden Trabreprisen und spritzigen Galop­paden. Die Angst sollte dabei nicht mit im Sattel sitzen. Doch nach wie vor wird in Reiterkreisen Angst zu selten thematisiert. Denn wer will schon als «Feigling» dastehen. Dennoch darf und muss Angst besprochen, hinterfragt, erlebt und bewältigt werden. Wir zeigen Ihnen auf, wie sie selbst mit ihren individuellen Herausforderungen – am und auf dem Pferd – umgehen können …

Angstbewältigung, Hilfe durch Biofeedback, das richtige Atemtraining … In den mit «Lebenshilfe» beschriebenen Regalen unserer Buchläden hat sich eine Palette psychologischer Ratgeber angesammelt. Sie alle befassen sich, unter mehr oder weniger verschlüsselten Titeln, mit einem Thema: Angst. Doch warum ist die Scheu so gross, zu den eigenen Ängsten zu stehen? Warum gibt beim abend­lichen Bier kaum ein Reiter zu, beim heutigen Ausritt Schweissausbrüche erlebt zu haben, als sein Pferd durchging und im vollen Galopp Richtung Landstrasse abbrauste?

Eng um die Brust...

Das gemeinhin als «Angst» bezeichnet wird, splittert sich sprachwissenschaftlich auf in Angst und Furcht. Das lateinische «angustus», von dem das deutsche Wort Angst stammt, bedeutet «eng». Das Gefühl der Enge,
das den Brustkorb einzuschnüren scheint, befällt Menschen in den unterschiedlichsten Situation­en. Sie alle lassen ihn eine Form des Schmerzes befürchten, sei dieser nun körperlich oder seelisch. Der Duden definiert Angst mit dem «Gefühlszustand, der einer unbestimmten Lebensbedrohung entspricht». Im Unterschied dazu steht die objektbezogene Furcht. Angst variiert zwischen allgemeiner Lebensangst bis hin zur panischen ­Todesangst. Sie ist von eindeutigen unbewussten Symptomen begleitet: Puls­rasen, Schweissausbrüche, Zittern wie Espenlaub.
Die Psychoanalyse nennt als eine von verschiedenen Formen der Angst
die so genannte Realangst: Sie betrifft die ­Gefahren der Aussenwelt. Wer auf einem steigenden Pferd sitzt, das droht, sich rückwärts zu überschlagen, empfindet das, was die Sprachwissenschaftler Furcht nennen. Furcht ist objektbezogen und kann eine milde Bedrohung oder Lebensgefahr sein. Stets löst sie starke körperliche Erscheinungen aus: die Notfallfunktionen. Unse­re Pupillen weiten sich und unsere Sinnesorgane schalten auf Supersensibilität. Unsere Körperhaare richten sich zur oft zitierten Gänse­haut auf, unser Blutdruck steigt. Die Nebennieren schütten Adrenalin in die Blutbahnen aus. Darin unterscheiden wir uns nicht von unseren Urahnen, die sich unverhofft einem Höhlenlöwen gegenüber sahen. Auch uns Jetztzeitmenschen ermöglicht diese Notfallfunktion die Wahl zwischen Kampf und Flucht – und diese Wahl muss blitzschnell getroffen werden!

Reitschulen eher unsicher?

«Nein, da will ich nicht rauf! Ich habe Angst!» Ein dreijähriger Knirps, der vor versammeltem Pu­blikum seine «Sattelfes­tigkeit» beweisen soll, schämt sich keineswegs, durch eine Flut von Tränen seine Angst vor dem «Riesenmonstrum Pferd» kundzutun. Frau Y dagegen geht vor der abendlichen Reitstunde dreimal nacheinander auf die Toilette, seit der Reitlehrer energisch gefordert hat: «Heute reiten sie aber endlich mal den Blitz!» Blitz hat in den vergangenen Reitstunden seine Reiter jedes Mal abgebockt. Wen wundert es da, dass Frau Y nun schlimme Bauchkrämpfe plagen? Doch kategorisch dieses Pferd abzulehnen und damit den Unmut des Reitlehrers herauszufordern? Das schafft Frau Y nicht… Denn: «Was sollen die anderen denken?»
Oft wiegt die Auseinandersetzung mit den Kommentaren der Reiterkollegen schwerer als das Risiko, im schlimmsten Fall bei einem Sturz eine Querschnittslähmung davonzutragen. Eine solche Verletzung kann das grosse «Aus» bedeuten: Für den Beruf, für die Partnerschaft, vielleicht für den gesamten Lebensplan. Angst ist ein Wort, das im Vokabular etlicher Reitschulen – noch – fehlt. Erwachsene dürfen keine Angst zeigen, geschweige denn sie artikulieren. Höchstens einem kindlichen Reitanfänger gegenüber lässt sich ein freundlicher Reitlehrer zu einem beschwichtigenden «du brauchst keine Angst zu haben.» herab. Selten aber wird diese kindliche Angst hinterfragt. Eigentlich jedoch müsste sie in ihre Einzelelemente zerlegt und damit begreifbar gemacht werden. Man müsste sie durch ausführ­liche Antworten und praktisches Vorführen kontrollierbar machen – und so letztlich überwinden.  Das wäre sicher einer der wichtigsten Schritte auf dem Weg zur Heranziehung qualifizierter Reit­sportler.

Furchtobjekt Pferd?

Pferde gefährlichen Furcht­objekten gleichzusetzen, wäre sicher eine Übertreibung. Das Pferd zählt zu den Fluchtwanderwildarten. In freier Wildbahn gehen sie uns Menschen aus dem Weg und trachten uns nicht nach dem Leben. Nur wenn es keine Möglichkeit zur Flucht sieht, setzt das frei lebende Pferd seine Verteidigungswerkzeuge ein: Hufe, Gebiss, Körperkraft und sein grosses Bewegungspotential.

Pferde sind Fluchttiere – nur in Ausnahmesituationen stellen sie sich dem Kampf.

Dem domestizierten Pferd ist die Wahl zwischen Kampf und Flucht meist genommen. Es wird «eingesperrt» – ob in der Box oder zwischen einem scharfem Gebiss, pressenden Schenkeln und harter Reiterhand. Manchmal gelingt die Flucht – gegen den Willen des Reiters, der dies Durchgehen nennt. Manchmal gelingt ihm auch ein Scheinsieg nach kurzem Kampf: Es bockt  und macht sich von dem, in seinen Rücken plumpsenden, Schwergewicht frei. Analysieren wir sämtliche vom Reiter unerwünschten (weil ihn gefährdenden) Verhaltensweisen, entdecken wir bald, dass sie alle den natürlichen, im Erbgut des Pferdes verankerten Flucht- und Verteidigungsmechanismen entsprechen. Wir haben ihnen nur andere Namen gegeben: Bocken, Scheuen, Durchgehen, Steigen, Kleben. Die meisten davon machen dem Reiter Angst, auch wenn man diese ungern zugibt.

Fehlreaktion erhöht das Risiko

Gehen wir der eigenen Angst vor dem Pferd ­beziehungsweise vor bestimmten Situationen auf den Grund, gelangen wir zu ihrem eigentlichen Kern: Wir befürchten,  selbst auf natürliche Verhaltensweisen des Pferdes falsch zu reagieren. Falsche Reaktionen jedoch können, zwar meist nicht von heute auf morgen, so doch auf längere Sicht korrigiert werden. Das setzt voraus: Einsicht, Lernwilligkeit und die praktische Anwendung des Gelernten. Zum einen müssen wir Pferdehalter anerkennen, dass ein Pferd immer ein Pferd bleibt. Wir können ihm erwünschtes Benehmen an­dressieren, dennoch wird es in wirklich kritischen Situationen immer seiner Art gemäss reagieren und den Dressurakt vergessen, wenn dieser nicht wirklichem Vertrauen, Respekt und Gehorsam entspringt. Beispiel: Bringt ein Pferdehalter seine rossende Stute zur Weide, kann auch ein ansonsten gutmütiger Wallach sich seines maskulinen Triebes erinnern
und der begehrenswerten Dame auf den Pelz rücken. Doch die Stute ist nicht willig und schlägt aus. Wehe dem Menschen, der zwischen dieses Geplänkel gerät.

Verhaltensweisen kennen lernen!

Die Kenntnis – sprich das Erlernen – der natürlichen Verhaltensweisen des Pferdes lässt uns Risiken erkennen, sie korrekt einschätzen, ihnen vorbeugen. Zu diesen Verhaltensweisen zählen vor allem:
• die Kommunikationsweisen,
• die Herdenhierarchie,
• ­Flucht- und Verteidigungsmechanismen,
• der Fortpflanzungstrieb.

Im Zusammenhang mit ihnen müssen beim do­mes­tizierten Pferd die jeweiligen «Lebensräume» be­rücksichtigt werden, in denen es sich gerade bewegt:
• Anbindeständer oder Box,
• Kleinauslauf,
• Grosspaddock,
• portionierte Weide,
• nicht portionierte grosse Weide.

Hier geht es verschiedenen «Tätigkeiten» nach: Es schläft oder ruht, es nimmt Nahrung auf. Es säuft, es scheidet Kot und Urin aus, es bewegt sich, es pflegt Fell und Körper, es strebt sozialen Kontakt zum Artgenossen an.
Diese «Tätigkeiten» wurden bewusst einzeln aufgeführt, weil frei lebende Pferde für beinahe jede davon einen jeweils anderen «Raum» wählen. Sie misten beispielsweise niemals dort, wo sie ruhen – was der Mensch ihnen aber bei der Haltung in der Box aufzwingt.

Fundiertes Know-how erwerben

Selbst diese einfachen Tatsachen sind nicht jedem Pferdefreund bekannt. Wissenslücken bei sich selbst zu entdecken, bedeutet keine Schande, sie lassen sich schliessen:
• durch einen wirklich kompetenten Reitpäda­gogen,
• durch Fachliteratur, die von Experten empfohlen sein sollte,
• durch Kurse, durchgeführt von qualifizierten Ausbildungsbetrieben, die Theorie und Praxis miteinander verbinden,
• durch eigene Beobachtungen.

Ein jederzeit zuverlässiges Pferd wünscht sich jeder Reiter.

Wissen zu erwerben und es anzuwenden, sind leider oft noch «zweierlei». Gerade Pferdeleute, die sich insgeheim «Profis» nennen würden, lassen im Umgang mit Pferden genauso wie beim Reiten oft genug den berüchtigten Schlendrian walten. Gute Sicherheitsratschläge an andere verteilend, scheinen sie sich selbst und ihr eigenes Pferd anschein­end mit einer Aura der Unverletzbarkeit umgeben zu sehen. Diese Aura lässt sie Risiken eingehen, vor denen sie andere warnen. Diese Risiken betreffen überwiegend:
• die eigene Ausrüstung,
• die Ausrüstung des Pferdes,
• Tempo- und Routenwahl beim Geländeritt,
• Vernachlässigung von Sicherheitsregeln beim Umgang mit Pferden.
Warum sie das tun? Sie haben «ja endlich keine Angst mehr». Diese Angst stellt sich jedoch paukenschlagartig wieder ein,  wenn ein Unfall beweist, dass das vorhandene und ignorierte Wissen wirklich besser angewandt worden wäre.

Lebewesen Pferd

«Ich liebe mein Pferd, doch hin und wieder habe ich Angst vor ihm.» Auch diese Aussage ist völlig legitim. Im Partner Pferd steht uns ein lebendiges Individuum gegenüber, das je nach Situation auch einmal heftig auf einen Umweltreiz reagiert. Dabei ignoriert es unser eigenes Vorhandensein völlig. Natürlich weiss es nicht, in welche Gefahr es uns hineinmanövriert, doch je häufiger wir diese Situationen erleben und je schwieriger sie zu bewältigen sind, desto natürlicher ist es, dass sich die objektbezogene Furcht zu einer pauschalen Angst vor dem Pferd auswächst. Ein gut und auch recht ­gefahrlos praktizierbarer Weg, um bei Tier und Mensch Stress zu reduzieren, liegt in der gemeinsamen Bodenarbeit. Hier fällt die Angst, vom Pferd zu stürzen, weg. Durch Stillsteh-, Führ- und Geschicklichkeitsübungen, auch an Longe, Doppellonge und beim «Fahren vom Boden», bauen sich Respekt, Gehorsam und Vertrauen auf. Der Mensch wird zum «Leittier», dem das Pferd sich gern unterordnet und damit auch entspannt. Diese Entspannung lässt sich bei ausreichender Übung in Stall, auf der Bahn und vor allem auch mit dem Pferd an der Hand im Gelände weiter festigen und schenkt dadurch auch dem Reiter Mut und mehr Gelassenheit.

Mentales Training

Mentales Training kann die zweite, noch zu selten publizierte «Schiene» auf dem Weg zu harmonischerem Umgang mit Pferden und zu sicherem Reiten sein. Die verblüffende Wirksamkeit von Vis­ualisierungstechniken auf dem Pferd hat die amerikanische Reitpädagogin Sally Swift bewiesen. Sie entwickelte ein Konzept «Reiten aus der Körpermitte» (centered riding) und erprobte es erfolgreich auch bei unzähligen Leistungssporttreibenden. Visualisierung bedeutet, sich bestimmte, meist sehr einfache Bilder im Geist vorzustellen. Der Körper reagiert auf diese Bilder ohne grosses, anstrengendes Zutun.
Ein sehr eindrucksvolles Beispiel: Der Reiter stellt sich vor, bei jedem Schritt des Pferdes von einer, aus dem Himmel herabreichenden, weichen Sprungfeder an der Gürtelschnalle nach vorne und nach oben gezogen zu werden, ganz sachte … Wer diese Übung probiert, stellt fasziniert fest: Nicht nur der eigene Sitz verbessert sich sicht- und spürbar, man fühlt sich – trotz der aufrechteren Haltung – lockerer und entspannter. Das Pferd geht wie befreit, als wäre nicht nur körperlicher, sondern auch seelischer Druck von ihm genommen. Es scheut viel seltener, man reitet schwungvollen Schritt am langen Zügel dort, wo man sonst zu «bremsen» pflegte.

Bestandteil des Spitzensport-Trainings

Mentales Training wird von Spitzensportlern in aller Welt angewandt. Die Vokabel lässt es als bahnbrechende Erfindung der Neuzeit erscheinen, und doch wurde es in vielen Variationen in den ältes­ten Kulturkreisen unserer Erde praktiziert: Indianische und afrikanische Schamanen heilten damit ihre Patienten. Indische Yogis überlebten tagelang in geschlossenen Kammern unter der Erde. Zen praktizierende, chinesische Bogenschützen trafen den Mittelpunkt der Scheibe mit verbundenen Augen in völliger Dunkelheit … Mentales Training fängt beim Faktor Zeit an. Zeitdruck macht ängstlich.
Sorgen, die mit in den Sattel steigen, führen zu Muskelverspannungen und einer Minderung der Reaktionsfähigkeit. Wer über das Gestern nachgrübelt und dem Morgen mit Bangen entgegenschaut vergisst, dass er im Hier und Jetzt reitet. Und zwar reitet er auf einem Lebewesen, das nur auf dieses Hier und Jetzt reagiert. Ein Pferd zu entstressen ist wichtig, sich selbst zu entschleunigen ebenso. Diese Techniken sind zu erlernen. Zwei der simpelsten sind Erzählen und Singen. Wer mit dem Pferd «in Babysprache» spricht, beruhigt sich selbst. Wer ihm ein Lied­chen vorsingt, reitet es problemloser an den «Ungetümen» unserer technisierten Umwelt vorbei. Erzählen, Singen und ­Flöten normalisiert den Atemrhythmus. Der Atem­rhythmus wiederum beeinflusst den Muskeltonus positiv. Die feinsten Körperbewegungen werden vom Pferd regis­triert – seine wichtigste Verständigungsweise ist ja der Körper. Der entspannte Reiter signalisiert ihm: Hier droht nirgendwo Gefahr. Das gelassen gehende Pferd signalisiert wiederum dem Menschen: Ich brauche keine Angst vor ihm zu haben. Welch positiver Ping-Pong-Effekt!

Aufgabe für Reitpädagogen

Diese simplen Mechanismen können nur wirken, wenn man sie kennt. Doch noch zu wenige Reitlehrer machen Lockerungsübungen vor dem eigentlichen Reitunterricht. Oder wer erklärt schon einmal die Wirkweise von bestimmten Atemtechniken? Das hiesse, sich damit auseinanderzusetzen, dass bei vielen Reitschülern die Angst mit in den Sattel steigt. Die grosse Aufgabe moderner Reitpädagogik wird es sein, diese Angst endlich anzuerkennen und sie auszusprechen, um gemeinsam zu versuchen, sie auf ein vernünftiges Mass zu reduzieren und mit ihr umzugehen.
Dazu gehört, den Reitunterricht durch neue Komponenten zu beleben, zum Beispiel durch:
• am lebendigen Objekt demonstriertes theoretisches Wissen über Körper und Psyche des Pferdes,
• gemeinsame Beobachtungen an Pferden, die sich frei im Herdenverband bewegen,
• praktische Übungen im Umgang mit Pferden, welche die Ursache des Pferdeverhaltens und die Wirkung vom Menschen getroffener Sicherheitsvorkehrungen genau erklären,
• Aufzeigen und gemeinsames Üben von lang- ebenso wie kurzfristig wirkenden Entspannungstechniken,
• mentales Trainieren von korrektem Verhalten in «Notfall-Situationen» am und auf dem Pferd.

(Erschienen in der PferdeWoche Nr. 49/2010)

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